Falsche Nähe
merkt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen. Sie hält sich nicht für dünnhäutig, sie kann austeilen, also muss sie auch einstecken können, doch wenn Audrey so hart mit ihr ins Gericht geht wie gerade eben, fühlt sie sich wehrlos. Als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Sie beginnt zu schluchzen.
»Heulen nützt auch nichts«, sagt Audrey mit belegter Stimme. »Mach dir lieber mal ein paar Gedanken.«
»Aber das Schwert, es ist –«
»Pack. Es. Weg. Und lass künftig die Finger von Moritz’ Sachen. Und von meinem Computer.«
Sich ihrer Unterlegenheit bewusst, steht Noa mit hängenden Schultern neben dem Schreibtisch. Das ungute Gefühl, im Unrecht zu sein – und dabei einen Erkenntnisvorsprung errungen zu haben, aus dem sie nun keinerlei Nutzen ziehen kann –, setzt ihr zu.
»Ist das angekommen?«, hakt die Schwester nach.
Heulend ringt Noa sich ein Nicken ab.
Audrey öffnet die Jalousie. »Dann mach’s auch.«
Aus Angst, Audrey könnte Arne von ihrer Verfehlung berichten, der daraufhin sicherlich Moritz informieren würde, stellt Noa sich selbst. Da auf dem Seesack auch eine E-Mail-Adresse vermerkt ist, erfolgt ihr Geständnis elektronisch:
Hey Moritz,
lange nicht gesehen. Ich muss dir was sagen: Ich hab’ in deinen Sachen rumgeschnüffelt. Reine Neugier. Tut mir leid.
LG,
Noa
Die Antwort blinkt keine zwanzig Minuten später im E-Mail-Eingang ihres Handys:
Liebe Noa,
ich fühle mich geschmeichelt. Hätte es umgekehrt genauso gemacht. Wie gefällt dir das Schwert ?
Moritz
Es folgt eine Freundschaftsanfrage bei Facebook, die sie annimmt. Fortan können sie problemlos chatten:
Noa: Hast du dich mal daran geschnitten?
Moritz: 1x? 100x? Wieso? Du auch?
Noa: Ist halt höllisch scharf. Hat es wehgetan/schlimm geblutet?
Moritz: Geht so. Und bei dir?
Noa: Nichts passiert.
Moritz: Heute Abend schon was vor?
Noa: Bin leider verabredet _
Moritz: Kann man nix machen. CU
Noa: Mach’s gut.
Als sie sich abgemeldet hat, ist Noa noch niedergeschlagener als zuvor. Die Verabredung: frei erfunden, eine Notlüge. Denn nach allem, was geschehen ist, fühlt sie sich außerstande, ein Date mit einem Jungen zu bewältigen, der ihr wirklich gefällt. Allein seine Reaktion auf ihre Mail: superlässig. Je näher sie Moritz kennenlernt, desto mehr hält sie von ihm. Sein größtes Manko scheint tatsächlich sein Vater zu sein, aber um genau zu wissen, wie er tickt, müssten sie sich länger unterhalten. Wofür ein Date – logisch – genau das Richtige wäre.
Automatisch gerät Noa ins Träumen. Was ihr vorschwebt: ein Besuch in der Sushi-Factory. Während man nebeneinander auf Barhockern sitzt und die Portionsschälchen auf dem Förderband dahingleiten, gibt es Hunderte Gelegenheiten für scheinbar zufällige Berührungen. Allein schon beim Herumalbern mit den Stäbchen. Oder beim Zugreifen. Es ist nicht so förmlich wie ein Candle-Light-Dinner, nicht so beliebig wie im Steakhouse und nicht so dunkel und anzüglich wie im Kino. Wo sie in ihrem verheulten Zustand allerdings besser aufgehoben wäre.
Zumal Noa – der Blick hinüber zur Spiegeltür am Schrank bringt es an den Tag – dringend zum Friseur müsste. Ihr Pony ist rausgewachsen, ihre halbherzigen Versuche, ihn mit der Küchenschere selbst wieder in Form zu trimmen, können als gescheitert verbucht werden, die Spitzen sehen trocken und stumpf aus.
Um etwas für sich und vor allem ihre Haare zu tun, beschließt sie ein Bad zu nehmen und eine Birkenöl-Kur aufzutragen, die mindestens eine Viertelstunde einwirken muss. Sie macht es sich gemütlich, Kerzenlicht, Musik von The XX, aber als sie den Kopf zurücklehnt, kann sie nicht entspannen und spürt, dass sie unaufhörlich die Zähne aufeinanderbeißt. Obwohl der Badeschaum und die Kur angenehme Düfte nach Aprikose und Kokos verströmen, wirkt der Gestank des Wasserstoffperoxids immer noch in ihr nach.
Sie spult in Gedanken die jüngste Auseinandersetzung mit Audrey zurück, konfrontiert sich mit der Frage, inwieweit die Vorwürfe ihrer Schwester zutreffen:
Ist sie seit Mallorca eine andere geworden? – Nein, definitiv nicht.
Hat sie sich in letzter Zeit komisch benommen? – Ja.
Daran gibt es nichts zu rütteln, jedoch von ihrer Warte aus, war ihr absonderliches Verhalten, waren das Misstrauen, die Schnüffeleien, stets begründete Reaktionen auf bedrohliche Vorgänge. Sie findet es immer noch seltsam, dass Audrey, noch bevor sie Arne überhaupt persönlich
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