Falsche Nähe
springt Arne wie eine kaputte Schallplatte an den Anfang des Dialogs zurück. »Sonst mache ich es.«
»Das wirst du nicht tun. Es ist meine Vergangenheit. Nicht deine.«
»Und ihre . Ihr müsst euch beide damit auseinandersetzen.«
»Deswegen wollte ich darüber schreiben.«
»Das war ein Irrweg und das weißt du auch.«
»Ganz ehrlich: Manchmal denke ich, ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Kevin – er könnte auch Ricky heißen oder Justin, irgendein unterprivilegierter Name eben – hat es immer noch nicht kapiert. Weil er jung und furchtlos ist, weil er Eier in der Hose hat und seine Muskeln vom Training hart sind wie Drahtseile, glaubt er, ihm liegt die Welt zu Füßen. Er denkt, er hat’s drauf. Träumt von Champagnerduschen, Motoryachten und einer Villa in Dubai, wo die Wasserhähne aus Gold sind und die Frauen den ganzen Tag Bauchtanz machen und ansonsten die Klappe halten, anders als seine Alte, die redet und redet, sogar noch nachdem sie die Fresse poliert bekommen hat.
Er klaut wie ein Weltmeister, nach seinem Verständnis: er besorgt sich, was ihm zusteht. Entweder indem er die Leute brutal abzieht oder, wenn ihm nicht danach zumute ist, weil die panischen Gesichter und das Flehen ihn mehr und mehr abstoßen, indem er seine Kunstfertigkeit im Taschendiebstahl unter Beweis stellt. Sein Vorteil: Die meisten halten ihn für blöd, aber das ist er nicht. Er hätte aufs Gymnasium gekonnt, wäre er nicht ständig zugedröhnt. Seinen Eltern ist das egal. Sie haben selbst ja nicht mal die Hauptschule gepackt. Keine Ausbildung, kein Job, so läuft das bei ihnen.
Manchmal findet sein Alter die Sachen in seinem Zimmer, bevor er dazukommt, sie weiterzuverscherbeln, dann setzt es Prügel, und er muss den Krempel abgeben, und alles geht wieder von vorn los. Egal, denkt Kevin (oder Ricky oder Justin), irgendwann bringe ich den Kerl sowieso um.
Er hätte das Zeug dazu. Wäre er nicht selbst schon so gut wie unter der Erde …
Unter der Erde
N oa wartet. Tagelang. Das Gespräch, das Audrey und sie Arnes – und ihrer eigenen – Meinung nach so dringend führen sollten, findet nicht statt. Einstweilen verändert sich ihr Zusammenleben erneut: Arne hört auf, sich in Noas Angelegenheiten einzumischen, und respektiert ihr Bedürfnis nach Distanz. Negativer formuliert: Er geht ihr aus dem Weg, und Audrey macht es ihm nach. Noa kennt sie gut genug, um zu wissen, dass es keinen Zweck hat, sie zu bedrängen. In die Enge getrieben, wird sie erst recht eine Mauer um sich errichten, und damit um das Geheimnis, das sie offenbar als schwere Bürde seit Jahren mit sich allein herumschleppt, obwohl es sie, Arne zufolge, beide gleichermaßen betrifft.
Diese Angst, von Noa gehasst zu werden. Noa hätte sicher Mitleid mit Audrey, wäre sie nicht selbst so begierig darauf, endlich zu erfahren, worum es geht. Audrey hat sie in eine Falle hineinmanövriert.
Eines Nachmittags lässt Moritz sich blicken und räumt den Inhalt des Seesacks in die Bettkästen der Schlafcouch. Das Katana befestigt er mit Audreys Einverständnis an der Wand, sie hilft ihm sogar, die Haken und Dübel anzubringen. Auch er nimmt kaum von Noa Notiz.
Trübe Tage vergehen. Keine Kreuzfahrtschiffe mehr in Sicht. Herbststürme fegen die Blätter von den Bäumen, die Mitarbeiter der Stadtwerke in ihren orangefarbenen Arbeitsuniformen rücken mit Laubbläsern an und veranstalten beim Aufsammeln einen Höllenlärm angesichts der überschaubaren Mengen an Blättern. Wie die Hafencity selbst sind auch die Bäume in dem Viertel noch jung und tragen nur wenig Laub. Eine Frage des Prestiges: Die neue gute Stube der Stadt soll immer wie geleckt aussehen.
Noa steht auf dem Balkon, die Arme um den Körper geschlungen, und schaut den Zugvögeln hinterher. Alle Farben grau. Sie scheitert bei dem Versuch, Miriam in ihre Nöte einzuweihen. Für eine Außenstehende klingt ohnehin alles viel zu verdreht.
Ihre Geduld geht im Morgengrauen zu Ende, im fahlen Grenzland zwischen Traum und Wirklichkeit. Noa schieß t im Bett hoch, von einer Sekunde zur anderen hellwach, plötzlich ist es ihr egal, was Audrey von ihr hält. Sie will Antworten.
Als sie das Arbeitszimmer der Schwester betritt, schaltet sie voller Trotz das Deckenlicht an, bevor sie das Notebook hochfährt. Die Fanfare meldet: dienstbereit. Obschon Noa sich nicht die geringste Mühe gibt, leise zu sein, regt sich nichts in der Wohnung. Sie ist ungestört. Besser so.
Für die erste Ernüchterung sorgt Audreys
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