Falsche Nähe
hätte wenigstens die gefütterten angezogen. Ihre Füße sind eiskalt.
»Na los, worauf wartest du? Trockne dich ab. Raus aus den nassen Klamotten.«
Um sie herum hat sich auf dem Terrakottaboden eine Pfütze gebildet. Aus einem unerfindlichen Grund kann Noa sich nicht rühren.
»Noa, alles klar?«
»Ich war auf dem Friedhof«, sagt sie und beginnt völlig unvermittelt zu weinen. Das ist so ziemlich das Letzte, was ihr in dieser Situation passend erscheint, aber sie kann nichts dagegen tun. Es bricht einfach aus ihr heraus. Neuerdings hat sie zu nah am Wasser gebaut.
Zum zweiten Mal an diesem Tag zieht Frau Matern Noa kurz entschlossen an ihre üppige Brust und umarmt sie, länger diesmal, fester, ohne sich darum zu kümmern, dass sie selbst dabei ziemlich nass wird. Noa ist überrascht, dankbar, aber zugleich fühlt sie sich auch eingeengt und muss sich zwingen, stillzuhalten. Sie möchte die Lehrerin nicht brüskieren. Das Klopfen eines fremden Herzens so nah an ihrem eigenen: eine Herausforderung.
»So was Blödes«, sagt sie dann und meint – einfach alles. Sie bückt sich, um die Schnürsenkel zu öffnen und aus den triefenden Turnschuhen zu schlüpfen. »Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist.«
»War denn mit dem Grab alles in Ordnung?«, erkundigt sich Frau Matern.
Sie nickt. »Meine Schwester hat eine Firma damit beauftragt, sich darum zu kümmern.«
»So halten es heute die meisten.« Es klingt, als wäre die Lehrerin mit dieser Entwicklung unzufrieden. Dessen ungeachtet spricht sie eine Entschuldigung aus: »Es tut mir leid, dass dich der Besuch auf dem Friedhof so mitgenommen hat. Schließlich habe ich dich dazu überredet.«
»Es war nicht der Besuch selbst, es war … Ich weiß auch nicht. Ich war noch nie dort. Verstehen Sie, Frau Matern?« Nicht dass Noa es selbst verstehen würde.
»Ich verstehe dich sehr gut. Aber sag’ doch bitte Bente und du zu mir, wenn du magst.«
»Okay.« Noa fügt sich. Protestiert nicht, als die Lehrerin ihr die Haare trocken rubbelt, als wäre sie dazu allein außerstande. Anschließend erhält sie trockene Sachen: bunte Stricksocken und eine Jogginghose. Sie ist genant, zum Umziehen lässt sie sich das Badezimmer zeigen. Anstatt sich zu beeilen, harrt sie eine Ewigkeit auf dem Badewannenrand aus und kann an nichts anderes denken, als an die betenden Hände auf dem Grabstein, die lederartigen Blätter am Baum. Das wird nicht ihr letzter Besuch auf einem Friedhof gewesen sein. Sie muss ihre Eltern finden.
Bente Materns Familie besteht aus ihren kleinen Töchtern Martha und Nele, acht und zehn, sowie ihrem Ehemann Heiner, der in Stade als Ingenieur arbeitet, wie sie erläutert. Die Mädchen sind zu Hause und reichen Noa zur Begrüßung wohlerzogen die Hände. Sie sehen aus w ie einem Bullerbü-Film entsprungen, aber anders als di e vorlauten Geschöpfe aus der Welt von Astrid Lindgren sind sie schüchtern, was sie sicherlich nicht von ihrer Mutter haben. Noa gelingt es, sie mit einem Gespräch über Katzen aus der Reserve zu locken. Noch lieber hätte sie allerdings einen Hund, gesteht Nele.
Plaudernd nehmen sie an einer langen Tafel unter dunklem Balkenwerk Platz, ein massiver Holztisch voller Gebrauchsspuren: helle Ränder von zu heiß abgestellten Bechern und Töpfen, Kratzer, bunte Spuren von Wachsmalstiften, wo die Mädchen beim Malen über das Ziel hinausgeschossen sind.
Frau Matern hat eine Zwischenmahlzeit aufgetragen: Es gibt gebutterten Rosinenstuten, selbst gebacken, wie Frau Matern versichert – was Noa ihr nicht ganz abkauft, dafür ist die Form des Brotlaibs zu perfekt –, dazu den angekündigten Tee, schwarz und stark mit Kluntjes und Sahne.
Die Lehrerin langt von allen am tüchtigsten zu. Nachdem die Mädchen je eine halbe Scheibe Stuten verdrückt, den Tee jedoch kaum angerührt haben, bitten sie darum, aufstehen zu dürfen. Es wird ihnen gestattet.
»Wie geht es deiner Schwester?«, fragt Bente Matern, sobald sie allein sind. »Erzähl doch mal.«
»Gut.«
»Ich habe alle ihre Bücher gelesen.«
Eine Bemerkung, die Noa schon oft gehört hat. Wie immer weiß sie nicht, was sie darauf erwidern soll: Ich nicht? Oder: Das würde Audrey sicher freuen. Die selbstsüchtige Wahrheit lautet: Es interessiert sie nicht die Bohne. Für sie zählen hauptsächlich die Früchte von Audreys Erfolg, denn davon profitiert sie. Das hat die Schwester damit erreicht, sie aus allem heraushalten zu wollen: Sie ist zu einer ichbezogenen Materialistin
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