Falsche Nähe
denn niemals dorthin gefahren?«
»Nein«, sagt sie. »Audrey war gründlich. Genau wie ihre Komplizen.«
… Am Tag, als Kevin (oder Ricky oder Justin) stirbt, ist es arschkalt. Morgens scheint wenigstens noch die Sonne, doch dann verdunkelt sich der Himmel, und in seinen geklauten Adidas werden die Füße zu Eis, was sich dermaßen beschissen anfühlt, dass er sogar überlegt, zur Schule zu gehen. Aber am Ende landet er doch im Einkaufszentrum. Um diese Zeit lungern da bloß Typen wie er rum. Er muss auf der Hut sein. Die Jungs vom Sicherheitsdienst haben Schlägerqualitäten und verstehen keinen Spaß.
Nachdem er eine Vollverschleierte um drei Fünfziger ärmer gemacht und die Kohle in ein Paar gefütterte Chucks investiert hat, geht er in den Park. Warum, weiß er selbst nicht, vielleicht, weil die Schuhe echt warm sind.
Von dort hat man einen weiten Blick auf die besseren Viertel der Stadt. Irgendwann werde ich da ein Haus haben, schwört er bei sich. Und wenn ich es mir klauen muss. Das machen doch sowieso alle. Klauen. Auf die eine oder andere Art. Da drüben, auf der anderen Seite, landet man nicht, weil man bei Lidl an der Kasse Überstunden macht – wie seine Tante, die Schwester seiner Mutter. Sie ackert, um allen Verwandten Weihnachtsgeschenke zu kaufen, die kein Mensch braucht. Als wären sie eine stinknormale Familie, wo einer für den anderen da ist. Obwohl: Was heißt schon normal. Alle Familien, die er kennt, sind im Arsch. So was gibt es doch nur im Fernsehen. Und auch dort nur noch in den Serien für Großmütter beim Öffentlich-Rechtlichen.
Letztes Jahr hat er zur Abwechslung mal seiner Tante was geschenkt, was Vernünftiges, eine Uhr von Rolex, und zwar eine echte. Bis August oder so hat sie kein Wort mehr mit ihm geredet. Das hat ihn verletzt. Es ist nämlich nicht so, dass seine Tante ihm egal wäre.
Als er das Motorrad kommen sieht, denkt er noch: Wie cool ist das denn bitte? Heizt hier einfach wie ein Irrer quer durch den Park. Das Aufblitzen von geschmiedetem Stahl, ein Schmerz wie ein Horrortrip, eine Überdosis von Gras, Koks, Chrystal Meth und allem, was dir die Birne wegknallt.
Dann das Nichts.
Inseltage
J e einsamer der Landstrich, den Noa durchquert, desto mehr füllt sich der Zug. Als würden alle verbleibenden Bewohner der Tiefebene flüchten. Vor der Nässe und dem Nebel. Weißliche Schwaden. Tief hängendes Gewölk, grau und stumpf wie erkaltete Asche. Hier und da Zäune, die ein Nichts vom anderen abgrenzen. Braune Felder. Die Ahnung, verloren zu sein, so sieht sie aus. So fühlt sie sich an.
Aber wer flieht schon auf eine Insel?
Eine Gruppe von Männern in Arnes Alter steigt zu, Warsteiner in Dosen wie Trophäen in der Luft schwenkend. Einer singt: »Ich bin Klempner von Beruf«. Frauen, die rosaroten Schnaps aus Plastikbechern trinken, schwanken von Abteil zu Abteil. Es ist dieselbe Klientel wie am Flughafen von Mallorca. Saufen, wenn ringsum die Wellen an den Strand schwappen, anscheinend gehört das für diese Leute zusammen, egal ob unter Palmen oder im nordischen Nieselregen. Noa kommt es vor, als würde sich ein Kreis schließen.
Die Heizung läuft auf Hochtouren. Noa kühlt die Stirn an der Scheibe, döst kurz ein. Unausgeschlafenheit wird bei ihr zum Dauerzustand. Sie hat die Nacht im Gästezimmer der Familie Matern verbracht – in einem schmalen Bett unter einer Dachschräge. Im Traum kroch Audrey zu ihr unter die Decke und presste sich an sie, ihr Arm wie ein Schraubstock um ihre Hüften. Dann verwandelte die Schwester sich plötzlich in Bente Matern.
Audrey, die Lügnerin!
Ihre Eltern – erschlagen wie Ungeziefer.
Sie darf jetzt nicht daran denken, nicht hier. Nicht so. Das ist nicht der geeignete Rahmen.
Noa öffnet die Augen wieder, als der Zugführer die nächste Station durchsagt. Gehört, vergessen. Einmal hält der Zug gegenüber einer verfallenen Molkerei. Auf dem Bahnsteig überwuchert Unkraut das von Narben durchzogene Pflaster, herbstbraun vertrocknet.
In einem Provinznest mit dem vielsagenden Namen Leer wird umgekoppelt. Noa fährt jetzt rückwärts. Der Mann, der sich schnaufend auf den Sitz neben ihr plumpsen lässt, sieht aus wie jemand, der sogar bei »Bauer sucht Frau« keine abkriegen würde. Ein Freak mit riesigen Händen, Adlernase und einer langen Narbe auf der Wange. Er hat einen deformierten roten Kunstlederkoffer bei sich und liest in einem abgegriffenen Buch. Sein Cordanzug ist ebenfalls in die Jahre gekommen, aber gepflegt,
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