Falsche Nähe
mutiert, der bei einer Umarmung die Luft wegbleibt.
Bente Matern wechselt das Thema. »Und du willst also in diesem Schuljahr Abi machen? Das freut mich sehr.«
»Wenn alles klappt.«
»Warum sollte es nicht? Hast du schlechte Noten? Komm, Noa, du doch nicht. Du bist doch immer schon eine ganz Schlaue gewesen.«
Noa muss grinsen. »Meine Noten sind in Ordnung. Aber vielleicht gehe ich ja gar nicht nach Hamburg zurück.«
Die Lehrerin lässt der Drohung Zeit, ihre Wirkung zu entfalten – auch auf Noa selbst. Während sie Tee nachschenkt und umrührt, einen Schluck trinkt und eine weitere Scheibe Stuten dick mit Butter bestreicht, hängen die Worte schwer und emotionsgeladen über ihren Köpfen.
Wie in Zeitlupe sieht Noa ihre eigene Hand zum Tisch hinunterschweben und nach der Tasse greifen, aber sie trinkt nicht. Das Ausmaß der Erschöpfung, die in dem Moment von ihr Besitz ergreift, ist zu groß. Das Flackern des Feuers im Ofen, seine behagliche Wärme, das Prasseln des Regens gegen die Scheiben, als ein weiterer Schauer niedergeht, ja sogar die Beschaffenheit der Tischplatte mit ihren Spuren eines zumeist heiteren, unbeschwerten Familienalltags – all das wirkt auf einmal lähmend auf Noa, führt ihr vor Augen, wie ihr eigenes Heranwachsen womöglich hätte vonstatten gehen können, wenn es diesen schrecklichen Unfall nicht gegeben hätte. Falls es überhaupt ein Unfall war. Inzwischen sind ihre Zweifel übermächtig.
Noa räuspert sich. »Das Problem ist …«, beginnt sie und richtet sich auf, fühlt, wie die Wut, die sie bereits am Grab der Großeltern gespürt hat, ihr jetzt neue Kraft verleiht. »… ich glaube, Audrey hat mir nicht die Wahrheit über den Tod unserer Eltern erzählt. Und sie weigert sich hartnäckig, reinen Tisch zu machen, obwohl sogar ihr eigener Freund sie dazu drängt. Das nehme ich ihr übel. Dass ich jetzt hier bei fremden Leuten – sorry Bente, aber so ist es leider, du bist eine Fremde für mich, alle Menschen außer Audrey sind Fremde für mich –, dass ich also hier bei dir darum betteln muss, um etwas über mich und meine Vergangenheit zu erfahren. Ich glaube nämlich, alle wissen mehr als ich. Sogar die Mutter von Jennifer, diese dumme Kuh. Deswegen wollte Audrey auch nie hierher zurück. Sie hat versucht, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber dazu bin ich noch lange nicht bereit. Nicht so.«
Bente Matern rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich will endlich Antworten«, sagt Noa so scharf, dass Martha, die gerade zur Tür hereintappt, sie mit großen Augen anstarrt. Das Mädchen erinnert sie an sich selbst, als sie im gleichen Alter war.
»Mama, können wir fernsehen?«, piepst die Kleine.
»Jetzt nicht, Schätzchen. Noa und ich haben hier etwas zu besprechen.«
»Genau. Dann sprich auch mit mir.«
Aber dann redet eine geraume Weile niemand. Bente Matern trinkt ihren Tee. Noa lässt ihren kalt werden. Unter dem Tisch streicht die Katze um ihre Beine.
Noa holt tief Luft. »Sie wurden ermordet, oder?«
Die Lehrerin nickt. Obwohl sie darauf hätte gefasst sein müssen, fühlt Noa, wie etwas in ihr zerbricht.
»Von wem?«
»Ein Angestellter deines Vaters, soweit ich mich entsinne. Hör zu, Noa, du warst damals drei Jahre alt. Du hattest nichts von der Tat mitbekommen und Audrey, die sich schon als ganz junges Mädchen für dich verantwortlich gefühlt hat, tat alles dafür, damit das auch so bleibt. Natürlich haben die Leute getratscht, aber nie in deiner Gegenwart. Deine Schwester hatte, na, wie soll ich sagen, irgendwie hatte sie alle im Griff. Sie wollte es dir ermöglichen, so unbeschwert wie möglich aufzuwachsen. Ich weiß noch, wie sie immer zu den Elternabenden für deine Klasse kam, selbst noch ein halbes Kind. Man wollte sie nicht zur Feindin haben.«
Noa holt ihren Rucksack aus der Diele und kramt den Zeitungsausschnitt hervor. »Geht es hier um den Mörder meiner Eltern?«, fragt sie.
»Ja«, bestätigt Bente Matern, nachdem sie die Zeilen überflogen hat. »Das war der Fall.«
»Wo ist dieser Ort, der dort erwähnt wird? Hier in der Nähe?«
»Sande? Auf Sande, steht da. Damit ist doch die Insel gemeint.« Bente Matern nimmt die Brille ab, reibt Stirn und Augen mit der flachen Hand.
Verzweifelt versucht Noa, sich ihre Geografiekenntnisse ins Gedächtnis zu rufen, doch die Deutschlandkarte vor ihrem geistigen Auge ist ein blinder Fleck. »Sande?«, wiederholt sie tonlos. »Wir stammen von einer Insel?«
»Ja, diese kleine Nordsee-Insel. Seid ihr
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