Falsche Opfer: Kriminalroman
sie aller Wahrscheinlichkeit nach geschlachtet worden. Doch es kam anders. Statt dessen wurde ihnen der Aktenkoffer mehr oder weniger geschenkt – paradoxerweise von einer Gang von Nazi-Räubern. Sie nahmen ihn und hauten ab. Doch es war kein Geld darin, nur ein Schlüssel. Sonja dachte über mögliche Bankfächer nach. Sie hatte keine Ahnung, wusste jedoch, wohin ihr Vater Rauschgift lieferte. Sie mussten sich trennen, und jeder musste auf einer Seite suchen. Zwei serpentinengleiche Wege auf der Schwedenkarte.
Paul und Kerstin gingen weiter durch Per Karlssons Wohnung. Überall standen eigenartige Holzskulpturen in allen erdenklichen Formen, und eine Kleiderkammer war zur Werkstatt umfunktioniert. Der Boden war von Eisenfeilspänen bedeckt, und in einem Abfallkorb lag ein Eisenblech, aus dem ein Schlüssel herausgestanzt war. Ein Vergleich mit dem Bankfachschlüssel zeigte identische Zacken und Einkerbungen.
Und eine gute Woche nach der Eröffnung der World Police and Fire Games teilte die Kinderschutzvereinigung BRIS mit, dass eine große Summe Geld auf ihrem Konto eingegangen war, nämlich fünf Millionen Kronen. Das Geld war in Paris eingezahlt worden.
Philemon und Baucis hatten ihr Bankfach gefunden.
Kerstin Holm sang und fand zum ersten Mal in ihrem Leben, dass Gerechtigkeit geschaffen worden war.
Sie blickte hinunter auf Jan-Olov Hultin, der mit seiner Frau in der ersten Reihe saß, inmitten der farbenfrohen Familie Chavez. Papa Chavez, Carlos, warf zwischendurch misstrauische Blicke zu dem Mann mit der großen Nase und der Eulenbrille hinüber. Hatte ihm nicht ein solcher Mann bei einem Altherrenspiel die Augenbrauen kaputtgeköpft?
Hultin sehnte sich nach seinem Rasen. Er sehnte sich danach, wie Sisyphus seinen Handrasenmäher den Hang auf und ab rollen zu können und dabei, getreu der auf traurige Weise vernachlässigten Maxime live and let live, jedes Unkraut zu umgehen.
Anschließend würde er im Rävalen baden, sein Comeback im Kreis der Veteranen-Fußballmannschaft der Stockholmer Polizei feiern, nach Griechenland fahren und nie wieder einen Menschen erschießen. Es reichte.
Doch in Pension gehen würde er noch lange nicht.
Und das war schwerer, als Kraut und Unkraut zu unterscheiden.
Er blickte über den Mittelgang zu Viggo Norlander hinüber. Er saß in einem viel zu engen Frack mit seiner Astrid neben sich. Über seiner Schulter hing Klein-Charlotte mit der schief-einwärts-nach-hinten-Miene. Aus ihrem Mund löste sich ein wenig kreideweiße breiige Spucke und legte sich wie Möwenkacke auf die Frackschulter. Norlander klopfte ihr behutsam den Po und sagte kein einziges Mal ›Schnauze‹.
Norlander seinerseits sah zurück über den Gang und betrachtete eine merkwürdige Ansammlung weißer Köpfe. Er hatte die Familie Söderstedt noch nie versammelt gesehen. Arto Söderstedt saß nass gekämmt wie ein Bauernknecht aus den dreißiger Jahren da und folgte Norlanders Blick, als dieser Stufe um Stufe an fünf weißhaarigen Kinderköpfen emporkletterte und weiter über einen weißhaarigen Mutterkopf zu dem nass gekämmten weißhaarigen Vaterkopf gelangte. Er sah die Stufenleiter, kicherte und zeigte auf seine Schulter. Norlander griff mit dem Finger in die Pampe und schüttelte den Kopf.
Söderstedt dachte an den Kredit, den er bei der Bank aufgenommen hatte, um seinen nagelneuen Toyota Picnic zu bezahlen. Er wusste, dass es eine ganze Menge anderes gab, an das er denken sollte, doch er hatte nicht die Energie. Nicht gerade jetzt. Er dachte, was für einen Spaß es machen würde, Auto fahren zu können. Es waren endlich Ferien, die Familie hatte ein Auto, doch kein Geld, um irgendwohin zu fahren. Er hatte das Gefühl, sich einem grundlegenden gesellschaftlichen Paradox anzunähern. Doch er hatte nicht die Energie, dem jetzt nachzugehen. Nicht gerade jetzt.
Nicht während der Polizeichor ›Komm, du herrliche Blumenzeit‹ in einem sonderbar langgezogenen Basston ausklingen ließ, der zu den allseits bekannten Einleitungstönen von Mendelssohns Hochzeitsmarsch überleitete.
Das Brautpaar schritt gemessen den Gang hinab. Er war dunkel, sie war hell, und es gab keine Mauern zwischen ihnen.
Sara Svenhagen betrachtete ihren Vater, während sie den Gang entlang schritt. Der granitharte Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen weinte bereits vernehmlich. Das war ja wohl reichlich früh, dachte Sara. Dann dachte sie an die verzerrten Bilder der Einsamkeit, dass sie für ihr Alter viel zuviel
Weitere Kostenlose Bücher