Falsche Opfer: Kriminalroman
In der Hand hält er einen Aktenkoffer. Ganz still.
Es ist dunkel, aber warm. Als habe der Sommertag sich noch ein wenig versteckt.
Als gebe es noch Licht.
Der Sommer hat kaum begonnen, und die Nächte werden schon wieder länger. Es ist Mittsommerabend, denkt er, seit ein paar Stunden. Die Woche hat mit der Sommer-Sonnenwende angefangen. Und endet mit dem Mittsommerabend.
Wie wir heutzutage die längsten Tage des Jahres feiern.
Keine Lilien und Akeleien, keine Rosen und Saliveien, keine liebliche Krauseminze.
Kein Herzensfreud.
Eigentlich will er nur an einen Ort, wo der Winter kürzer ist. Das ist alles.
Darauf wartet er.
Er steht ganz still und blickt ins Dunkel.
Richtig stockdunkel ist es nicht. Das wird es nicht in diesen Tagen. Nicht richtig, nicht wirklich pechschwarz. Wenn er den Weg entlang zu dem schäbigen Gewerbegebiet hinaufblickt, kann er Konturen alter Schuppen und rostiger Autowracks erkennen.
Da hört er es.
Und im selben Augenblick, in dem er die dumpfe Explosion hört, weiß er, dass die Sache schiefgelaufen ist. Alles. Sein ganzes Leben ist schiefgelaufen.
Er steht ganz still.
So heikel war die Sache also.
So dünn war die Trennlinie.
So delikat der Drahtseilakt.
Schon als er die dritte Salve hört, setzt er sich in. seinen Wagen, seufzt und fährt davon.
Es ist schon alles zu spät.
Sechs Mann in einem Van. Einem metallicgrünen Van dicht neben einem alten Industriegebäude. Die Fenster sind beschlagen vom schweren Atmen und von den unfreiwilligen Aussonderungen der Männer.
Ein Warten ohnegleichen.
Die Nacht schleppt sich hin.
Fünf Mann befinden sich in leichter Bewegung. Fast regloser Bewegung. Einer schlägt ununterbrochen mit dem Zeigefinger an den Daumen, einer leckt sich ständig die Lippen, er wird noch Blasen kriegen, einer kneift sich in die Nase, einer lässt das Knie auf und ab wippen, einer kaut auf dem Daumennagel.
Aber einer sitzt vollkommen still. Er hockt hinten im Van. Es ist so anstrengend wie Stretching. Nach einer Minute pflegen die Schenkelmuskeln anzufangen zu flattern. Bei diesem Mann tun sie es nicht. Er ist absolut ruhig. Die linke Hand lässt die Maschinenpistole am linken Schenkel ruhen, den Lauf zum Dach des Van gerichtet. Die rechte Hand hält etwas, das einem Visitenkartentaschenrechner ähnelt. Dünn, schwarz, und mit einem einzigen, leicht erhabenen Knopf. Einem roten.
Er schaut auf die Uhr. Dann wirft er einen Blick auf seine Männer. Er sieht sie sich gegen das nicht richtig kohlschwarze Dunkel abzeichnen. Der Schweiß rinnt von den dicken schwarzen Wintermützen über ihre Gesichter. Alle tragen schwarze Mützen, außer ihm. Seine ist golden. Sie krönt seine Stirn wie eine Königskrone.
Der Schweiß trieft, aber die Gesichter sind unter Kontrolle. Angespannt, gesammelt, konzentriert. So soll es sein.
»Drei raus«, sagt er.
Die drei hinteren Männer verwandeln ihre schwarzen Wintermützen in Gesichtsmasken, ziehen schwarze Vorhänge über ihre Gesichter. Die Augen leuchten darunter. Sie entsichern ihre Waffen und springen hinaus. Drücken sich mit den Maschinenpistolen im Anschlag an die Wand des Schuppens.
Er schaut auf den Sekundenzeiger. Die ruhigen, unberührten Schübe. Schritt für Schritt für Schritt. Minuten ununterbrochenen Betrachtens.
Jetzt punkt zwei. Eine Sekunde darüber. Zwei. Drei. . Da hört er die ersten Andeutungen von Motorgeräusch.
Sie werden lauter. Schließlich nickt er leicht und zieht den goldenen Vorhang vors Gesicht. Die beiden auf den Vordersitzen tun das gleiche. Aber ihre sind schwarz.
Hinter dem Schuppen wird die Fahrbahn erleuchtet, zuerst fast unmerklich, dann heller und heller.
Im selben Moment, in dem die Front des schwarzen Mercedes hinter dem Schuppen auftaucht, drückt er auf den roten Knopf.
Es ist nicht wie eine Explosion. Es ist eher so, als würde der Wagen von innen erleuchtet. Ein innerer Blitz. Sonderbar lautlos.
Der Mercedes rollt noch ein paar Meter. Bleibt stehen.
Die drei vom Schuppen sind bereits auf dem Weg.
Die drei im Van steigen aus. Einer von ihnen trägt eine goldene Gesichtsmaske. Er ist goldgekrönt, und er weiß es.
Als er bei dem Wagen ankommt, ist die Lage bereits klar.
Der Wagen brennt nicht, es steigt nur ein bisschen Rauch von ihm auf. Auf jeder Seite ein Mann, über den Wagen gebeugt. Sie werden abgetastet, eine Maschinenpistole in den Rippen. Im Wagen ein Mann. Auf dem Rücksitz. Er ist tot. Sein Körper zerfetzt. Eine Kette ringelt sich von einem
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