Falsche Opfer: Kriminalroman
war dein erster Gedanke, als du Eskil Carlstedt gesehen hast?«
Hjelm überlegte. Der Mann mit dem rasierten Schädel und dem schütteren blonden Schnauzbart betritt das Vernehmungszimmer. Er ist an die Dreißig, trägt einen ziemlich eleganten hellen Anzug mit gelbem Schlips und ist ein richtiges Kraftpaket. Hjelm fragt sich, ob die Ärmel seines Jacketts eine Ausstellung von Penistätowierungen verbergen.
»Ja«, sagt er nur. »Eskil Carlstedt war ein Köder. Vermutlich sahen sie alle fünf gleich zwielichtig aus. Aber Carlstedt war vermutlich der einzige ohne Vorstrafe. Dadurch, dass er blieb, lenkte er unsere Aufmerksamkeit von einer Bande ab, die sich bei genauerer Betrachtung verdammt verdächtig benahm. Er brachte uns dazu, für einen Augenblick zu glauben, sie seien eine Clique Verkäufer gewesen, die einen drauf machten und Frauen aufreißen wollten und sogar ein Demoband von einer Rockgruppe anhörten. Dieser Augenblick genügte Carlstedt, um sich in Luft aufzulösen. Und mit ihm die ganze Räuberbande. Für einen Mann ohne Vorstrafenlatte trat er verdammt routiniert auf.«
»Sie hatten die ganze Nacht, um ihre Strategie durchzugehen. Carlstedt wurde von der Polizei festgehalten, machte eine kurze Aussage, der zufolge er nichts gesehen hatte, hinterließ Name und Anschrift und kam am folgenden Morgen wieder zu uns. Da hatte seine Aussage sich verändert. Sie war gut einstudiert. Der einzige Punkt, wo er ein bisschen ins Schleudern kam, war die Sache mit dem Ohrstöpsel. Aber auch das hat er gar nicht schlecht gelöst.«
»Die vier Namen seiner Kumpel waren reine Erfindung. Kein einziger von ihnen existiert in Wirklichkeit. Er saß die ganze Zeit da und sah auf die Uhr. Weil er sie treffen wollte, um gemeinsam mit ihnen zu verschwinden. Er brauchte nur das Präsidium zu verlassen, und die Sache war aus der Welt. Also spielte er mit, setzte sich zum Polizeizeichner und produzierte eine Phantasiezeichnung, nannte vier falsche Namen, die von der Polizei bestimmt erst in ein paar Stunden nachgeprüft werden würden, und zog Leine. Und jetzt hockt die komplette Gang irgendwo zusammen. Um was zu tun?«
»Was mir auch auffällt, ist die professionelle Vorgehensweise beider Parteien. Aber zugleich können wir feststellen, dass sie eigentlich nichts Kriminelles getan haben. Nicht ernstlich. Wie zum Beispiel jemanden mit einem Bierkrug zu erschlagen.«
Sie erhoben sich gleichzeitig von der Parkbank. Eine leichte Dämmerung fiel über den Björnschen Garten. Der Spielplatz begann sich zu leeren. Nur die Skateboarder schwangen auf und ab, vor und zurück, immer wieder. Wie das Pendel einer Uhr.
»Wollen wir nachsehen?« sagte Paul Hjelm. »Ob dies alles nur Hirngespinste frustrierter Reichskrimmer sind, die sich nicht mit Kneipenschlägereien zufrieden geben?«
»Oder ob wir tatsächlich auf dem besten Weg sind, wieder Reichskrimmer zu werden«, nickte Kerstin Holm.
Es waren nur wenige Schritte zum Restaurant Kvarnen, einer von Schwedens letzten erhaltenen Bierschwemmen. Vor ein paar Monaten war es neunzig Jahre alt geworden. Nie zuvor war es Schauplatz eines Mordes gewesen. Aber fast. Es wurde 1906-1908 als Ersatz für den Hamburger Keller gebaut, jene legendäre Kneipe, in der die zum Tode Verurteilten ihre Henkersmahlzeit und ihren Abschiedstrunk zu sich nahmen, bevor sie zum Galgenhügel bei Johanneshov geführt wurden.
Das gleiche war mit Anders Lundström aus Kalmar geschehen.
Die Türsteher erkannten sie und ließen sie an der nicht vorhandenen Schlange ›lästiger Immigranten‹ vorbei. Die innere Tür öffnete sich, und sie betraten das Lokal. Die Kellnerinnen nickten ihnen kurz zu.
Es war tatsächlich brechend voll. Draußen vor der Tür ein richtig schöner Sommerabend, und eine Luft zum Schneiden im Innern des verräucherten Lokals. Sie blickten nach rechts, zu dem Tisch, an dem Eskil Carlstedt und die Kumpels gesessen hatten. Sie blickten zum Tresen. Sie blickten zu dem mittleren Tisch, an dem Per Karlsson und Ovid gesessen hatten. Und sie drängelten sich langsam durch zu dem Tisch an der gegenüberliegenden Wand. An dem das multikulturelle Gespräch stattgefunden hatte.
An die zehn, zwölf Zwanzigjährige saßen zusammengedrängt um den Tisch. Sie lachten, rauchten und tranken Bier. Sie schienen ihren Spaß zu haben. Genossen es, sich an einem medienmäßig so vielbesungenen Ort zu befinden. Im Zentrum der Ereignisse.
Hjelm vermutete, dass fünfundsiebzig Prozent von ihnen davon träumten,
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