Falsche Opfer: Kriminalroman
Rechenexempels begann Sara Svenhagen auf einmal den innersten Kern der Marktwirtschaft zu verstehen. Alles hatte seinen Preis. Oder eher: Man konnte alles mit einem Preis versehen. Wirklich alles. Jede Beziehung, jede Lebensäußerung. Das, womit sie sich gerade beschäftigte, waren ökonomische Berechnungen. Es war ganz einfach: plus und minus. Verlustminimierung. Geringstmöglicher Schaden. Die geringste Anzahl sexueller Übergriffe gegen Minderjährige.
Es kam ihr geschmacklos vor.
Notwendig, aber geschmacklos.
Alles konnte man mit einem Preis versehen. Die Vergesellschaftung der Intimsphäre. Die Verwandlung des Menschen von einer physischen in eine juristische in eine virtuelle Person. Es blieb eine Ziffer, ein Wert, ein Aktienkurs.
Plötzlich verstand sie vollkommen, warum sie sich das Haar abgeschnitten hatte.
Und genau da bekam sie die Telefonnummer. Sie fing mit 08 an. Stockholm.
Das Telefonregister gab ihr eine Adresse, eine reale Adresse, die ihr eigenartig vorkam. Fatburstrappan 18. Irgendwo in der Nähe der Söderhallen.
Und dann schoss die Wirklichkeit wie ein Habicht auf sie herab. Das moralische Dilemma war bei näherer Betrachtung fiktiv, oder zumindest nicht ihres. Sie hatte eine nicht ganz unwichtige Sache vergessen.
Dienstgrade.
Es war gegen zwei Uhr am Mittsommerabend. Der Tanz um den Maibaum war vielerorts schon in vollem Gang. Freitag. Danach der Mittsommertag und der Sonntag. Zwei Feiertage mit minimalem Personalaufgebot in der Stadt. Desto mehr auf dem Lande. Die Vorgesetzten tanzten um den Maibaum. Mit Sicherheit auch Ragnar Hellberg, der Komiker-Kommissar Party-Ragge. Aber sie hatte eine Nummer für den Notfall. Eine Handynummer.
Es fragte sich nur, ob sie Hellberg kontaktieren sollte. Es bestand keine richtige Eile. Der Pädophile in der Fatburstrappan 18 würde sich während des Mittsommerfestes vielleicht keinen schweren Übergriff zuschulden kommen lassen. Obwohl vielleicht für Sara Svenhagen nicht ausreichte. Vielleicht war nicht zufriedenstellend. Vielleicht würde er im Gegenteil Mittsommer mit einer richtigen Orgie von sexuellen Vergehen gegenüber Minderjährigen feiern.
Was würde Hellberg sagen? Er hatte möglicherweise schon die ersten Schnäpse intus und saß mit einem Partyhut schief auf dem Kopf da und lallte. Sie hätte nicht richtig sagen können, wie gut sie Hellberg wirklich kannte. Der jüngste und hipste Kommissar des Polizeikorps, allerdings hip auf diese eher gezwungene Unternehmermasche. Alle sollten Spaß haben. Das ist ein Befehl. Wir tragen Blaulicht auf dem Kopf beim Stockholm-Marathon. Oder? Aber okay, wenn es darauf ankam, war er wirklich kompetent. Sie konnte allerdings nicht ganz davon absehen, wie er Ludvig Johnsson ausmanövriert hatte, der praktisch die ganze Kinderporno-Abteilung schon aufgebaut hatte, als die Reichspolizeiführung den medienwirksamen Karrieristen Ragnar Hellberg berief und ihn im Schnellverfahren beförderte. Und Hellberg machte sich wirklich gut im Fernsehen. Party-Ragge, der die Reporter beim Vornamen nannte und stets einen Scherz auf Lager hatte.
Aber sie wusste eigentlich nichts von ihm. Weder ob er eine Familie hatte, noch wo er wohnte, und auch nicht, ob er ein Haus auf dem Lande hatte, wo er bei abgeschaltetem Handy saß und sich klein machte. Sollte die bloße Tatsache, dass sie sich unterstand, am heiligen Mittsommerabend bei ihm anzurufen, alle Türen verschließen? Würde sie sich eine Schimpfkanonade von einem Sill kauenden losen Mundwerk mitten in Saufliedern einhandeln?
Es war entweder – oder. Entweder würde sie grünes Licht bekommen, oder sie würde rotes bekommen. Im Augenblick war es gelb. Geändert nach der EU-Norm.
Sie rief an. Hellberg meldete sich fast sofort, als habe er auf ihren Anruf gewartet. Und er schien sich nicht im Paradies der Sauflieder zu befinden. In seiner Stimme erkannte sie zu Ihrer Verwunderung den Tonfall der Feiertagsangst.
Saß Party-Ragge dort wirklich ebenso einsam und verlassen wie sie selbst? War seine ganze Partylöwen-Attidüde nur eine professionelle Maske?
Sie war tief verwundert, als sie sagte: »Ich habe da was gefunden.«
»Sitzt du jetzt bei der Arbeit?« sagte Hellberg, allerdings ohne den erwarteten jovialen Tonfall, der andeutete, dass sie sich statt dessen im Mittsommerheu wälzen sollte.
» Ja .«
»Ich auch.«
»Woran denn?« platzte sie ungeschickt heraus.
Ragnar Hellberg schien nicht der Typ zu sein, der auch nur an gewöhnlichen Werktagen Arbeit mit
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