Falsche Opfer: Kriminalroman
tatsächlich Ausdruck einer Art Krise um die Vierzig. Er wollte verdammt nicht sterben, ohne soviel von den Möglichkeiten des Lebens erforscht zu haben wie möglich.
Zuletzt war es Rilke. Lyrik war immer noch nicht ganz einfach. Er arbeitete sich durch die Duineser Elegien hindurch und spürte, dass da etwas war, etwas absolut Grundlegendes, Wichtiges, Zentrales, ein Kontakt mit etwas, mit dem er selbst nicht in Kontakt zu kommen vermochte – aber er kam dennoch nicht richtig ans Ziel.
»Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen.«
Er legte die Duineser Elegien zur Seite und versprach sich selbst, noch einmal zu ihnen zurückzukehren. Statt dessen nahm er sich Rilkes Jugendroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge vor und war verzaubert. Er fand kein anderes Wort. Verzaubert. Er konnte das Buch nicht weglegen. Die wunderbare Kindheitsschilderung war in dem geliehenen Büro bei der Stadtteilpolizei dabei, sie war dabei, wenn er sich mit »Apparat Gunnar Löv« meldete und diese merkwürdige Pause zur Antwort bekam, sie war dabei, wenn er im Bezirk City durch Blutlachen watete und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, warum in Dreiteufelsnamen dieses Messer zum Vorschein kommen und sich zwischen jene Rippen bohren musste. Erst in dem Augenblick, als die ersten Hintergründe des Totschlags im Kvarnen zu erkennen waren, hatte er das Gefühl, das Buch ausgelesen zu haben. Er meinte, etwas merkwürdig Dahinterliegendes zu erkennen, das er normalerweise nicht entdeckt hätte. Er erlaubte sich, der Literatur für diese Entdeckung zu danken. Obwohl sich das ein wenig nach Idealisierung anhörte.
Seine Familienverhältnisse waren allerdings nicht idealisiert. Danne hatte die Pubertätsmuffeligkeit hinter sich gelassen. Statt dessen war Tova vom Pubertätswahnsinn befallen. Von allen guten Geistern verlassen. Er vermochte nicht einmal daran zu denken. Aber Cilla, die mit ihrer Tochter immer guten Kontakt gehabt hatte, setzte es hart zu. Jetzt war Tovas Mutter die antiquierteste, altmodischste Person, die überhaupt existierte, und zum erstenmal spürte Cilla wirklich ihr Alter. Das nicht besonders hoch war, jetzt aber abrupt mit ungefähr einem Jahr pro Tag zunahm. Demnach war sie jetzt dreiundneunzig, also nicht übermäßig aufgelegt für ehelichen Umgang.
Hinter dem Kopf von Jorge Chavez war Delphi zu sehen. Eine idealisierte griechische Urlandschaft mit goldglänzenden Heftzwecken. Chavez‘ Kopf steckte indessen im Computer. Sozusagen vernetzt.
»Das kleidet dich«, sagte Paul Hjelm.
»Was?« sagte Chavez und tippte weiter auf seinen Tasten.
»Delphi kleidet dich.«
Chavez hörte auf zu tippen und blickte über die Schulter. Er schnitt eine kurze Grimasse und tippte weiter.
»Wie geht‘s dir eigentlich?« fragte Hjelm abrupt.
Chavez seufzte und schaute auf. »Wollen wir arbeiten oder sozialen Umgang pflegen?« sagte er brutal.
»Wir wollen sozialen Umgang pflegen«, sagte Hjelm unberührt. »Wenigstens ein paar Minuten. Möchtest du Kaffee?«
»Nein, ich möchte keinen ungekochten Kungskaffee mit Kalkflocken drin.«
»Rassist«, sagte Paul Hjelm und goss aus der alten Kaffeemaschine auf ihrem gemeinsamen Schreibtisch zwei Becher ein. »Du musst dich integrieren lassen. Sonst wirst du dich nie an die schwedische Gesellschaft anpassen. Und wirst nie in die Kneipen gelassen.«
»Das ist ein kleines Paradox in der schwedischen Gesellschaft«, sagte Chavez und nahm den Kaffeebecher. »Nur Menschen, die nie in die Kneipe gehen, werden in die Kneipe gelassen.«
Sie hoben gemeinsam die Becher. Es war lange her.
»Doch, mir geht‘s nicht schlecht«, fuhr Chavez fort und verzog das Gesicht; man sah die Kalkflocken förmlich in seiner Mundhöhle herumsegeln. »Ich hab so verdammt viele Kurse absolviert, dass ich sie schon nicht mehr richtig auseinanderhalten kann.«
»Chilenisch für Muttersprachler?« stichelte Hjelm und lächelte charmant.
»Wenn ich binnen kurzem Kommissar werde«, sagte Chavez mit dem gleichen charmanten Lächeln, »dann werden solche Tendenzen bei der Polizei ausgemerzt. Und du fliegst als erster.«
Doch, sie waren wieder angekommen. Alles war wie immer.
»Keine Frauen?« sagte Hjelm.
»Wie heißt der Mann, der den Film Änglagard gemacht hat?«
»Colin Nutley. Immigrant. Seid ihr zusammen?«
»Colin Nutley. Als er nach Schweden gekommen ist, sind ihm zwei Dinge aufgefallen. Die Frauen waren vollkommen phantastisch.«
»Und
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