Falsche Opfer: Kriminalroman
ein Wohnhaus von dreiundzwanzig Etagen, Sechsundsechzig Meter hoch und mit ungefähr hundert Wohnungen. Im Frühjahr fünfundneunzig wurde der neue Detailplan angenommen. Der Bau konnte endlich beginnen.
Nach allem Wollen, allen Protesten, allen Kompromiss versuchen war ›Haglunds Latte‹ zeitweilig in ›Haglunds Halbständen umgetauft worden, und um – als der Bau beendet war – das Haus von Sune Haglunds leicht kompromittierendem Namen zu reinigen, erhielt es den offiziellen Namen Söder-Turm. Er hatte sich wohl nicht ganz durchgesetzt.
Auf jeden Fall wohnten Leute da. Die Wohnungen waren abnorm teuer, aber es wohnten Leute da.
Es wohnte zum Beispiel ein Mann mit Namen John Andreas Wireus dort. Er war pädophil.
Sara Svenhagen stand zwischen zwei uniformierten Polizisten und blickte zu dem eigentümlichen enormen Kreis hinauf, der, einer Glorie gleich, über dem Söder-Turm schwebte. In diesem Moment fand sie tatsächlich, dass Haglunds Latte schön war. Vielleicht war ihr Blick ein wenig getrübt, doch so gefährlich war es auch wieder nicht.
Dagegen vermochte sie im Augenblick der Kombination Phallus, Glorie, Halbständer und Pädophiler keine sinnvolle Aussage abzugewinnen. Sie hatte an anderes zu denken.
Ihr Blick ging über Medborgarplatsen. Er lag seltsam verlassen da. Stockholms im Normalfall meistbevölkerter Platz war nahezu menschenleer. Es war bewölkt und ein wenig trist. Und vollkommen mittsommeröde.
Ein Hausmeister ließ das Trio in den Söder-Turm. In dem eleganten Treppenhaus roch es nach Neubau und schwach parfümiert. Sie bedankten sich beim Hausmeister und betraten den Aufzug. Der größere der beiden Polizeiassistenten trug eine kurze schwarze, mit Handgriffen versehene Eisenstange. Er hielt sie ostentativ in einer Hand. Sara dachte, sie sollte ihm vielleicht einen beeindruckten Blick zuwerfen. Nur um sich seines Wohlwollens zu versichern.
Es gelang ihr nicht richtig.
Der Aufzug beförderte sie in den sechzehnten Stock. Sie schritten durch einen exquisit blumengeschmückten Korridor und gelangten zu der Tür mit dem Namensschild Wireus. Ist das wirklich ein Name? dachte sie und zeigte lautlos auf die Tür. Sicherheitshalber zog sie ihre Pistole. Die Assistenten fassten die Eisenstange an den Handgriffen, zielten auf eine Stelle unmittelbar unter der Türklinke und sahen sie an. Sie nickte. Sie schlugen die Tür ein und stürmten hinein.
Am Fenster in der tortenstückförmigen Dreizimmerwohnung saß ein graumelierter, etwa sechzig jähriger Mann in einem leichten Sommeranzug mit lilafarbenem Schlips. Er ließ eine Kamera mit langem Teleobjektiv sinken und starrte direkt in Sara Svenhagens Pistolenmündung. »Aber, Herrgott«, sagte er tonlos.
Obgleich sie in seinem Blick deutlich sah, dass er wusste, worum es ging.
»John Andreas Wireus?« sagte sie.
»Ja«, flüsterte der Mann.
»Legen Sie die Kamera ab und heben Sie die Hände hoch.«
John Andreas Wireus tat, wie ihm gesagt wurde.
»Legen Sie sich flach auf den Fußboden«, fuhr sie fort und nickte den Assistenten zu, die ihn mit einem leichten Touch von Brutalität durchsuchten.
Sie wanderte weiter durch die Wohnung. Sie war phantastisch. Und pedantisch aufgeräumt. Die Zahl der Antiquitäten war beträchtlich. Überall antike und elegante Gegenstände. Die Aussicht über die Stadt war großartig, in verschiedene Richtungen. Und im Schlafzimmer, umgeben von einem Flair von britisch-indischer Kolonialzeit, war der Computer eingeschaltet.
Als sie das sah, stellte sich eine absolut eiskalte Ruhe ein. Sie hatte ihn. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
Einer der Assistenten hatte sich aus irgendeinem Grund auf Wireus› Rücken gesetzt. Der knackte und knirschte.
»Ich glaube, es reicht jetzt«, sagte sie und nahm die Kamera, eine Canon in Pressefotografenklasse. Bestimmt zwanzigtausend Kronen.
Der Polizeiassistent kletterte von John Andreas Wireus herunter.
»Danke«, sagte sie einschmeichelnd und wandte sich dem Liegenden zu: »Was fotografieren Sie?«
»Ich bin passionierter Fotograf«, sagte Wireus und versuchte, sich auf dem Fußboden aufzusetzen. Das Knacken ging weiter.
»Ich verstehe«, sagte Sara Svenhagen. Den Rest würde sie sich für die Abgeschiedenheit des Vernehmungsraums aufheben. Sie wandte sich an die Assistenten: »Nehmt ihn mit. Setzt ihn in einen Vernehmungsraum. Ich komme gleich.«
Sie packten zusammen und verschwanden. Sie stand am Fenster und wartete, bis der Polizeiwagen abgefahren war.
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