Falsche Opfer: Kriminalroman
Öffentlichkeit gehen.«
»Aber das können wir tun, ohne eine Quelle zu nennen.« Dann gleichsam flehend: »Im selben Moment, in dem ich es dir sage, Jan-Olov, sage ich es auch Mörner und dem Reichspolizeichef und dem ganzen verdammten Polizeikorps.«
»Nicht unbedingt«, sagte Jan-Olov Hultin neutral.
»Doch«, sagte Chavez und sah ihm in die Augen. »Du kannst es dir nach dem Kentuckymörder nicht leisten, Mörner etwas vorzuenthalten. Du hast eine zweite Chance bekommen und bist nicht gewillt, sie aufs Spiel zu setzen.«
Hultin erwiderte seinen Blick, ohne zu zögern. »Da genau denkst du falsch, Jorge. Es ist doch im Gegenteil so, dass ich nichts zu verlieren habe. Überhaupt nichts.«
Chavez schluckte und fasste einen Entschluss. Er sagte: »Sie sind von einem Pädophilen im Söder-Turm aufgenommen worden, Haglunds Halbständer, wie Arto gesagt hat. Er wurde von Sara Svenhagen festgenommen, falls du sie kennst.«
»Natürlich«, sagte Hultin. »Ich kenne sie seit ihrer Kindheit. Brynolfs Tochter. Eine sehr fähige Polizistin.«
»Aber Sara hat von ihrem Chef den Befehl erhalten, den Fall privat zu ermitteln. Sie darf unter keinen Umständen etwas über ihre Ermittlung preisgeben. Auch intern nicht.«
»Hellberg«, sagte Hultin und verspürte wieder eine Spur von Müdigkeit. »Ein etwas modernerer Typ von Kommissar als ich. Und warum nicht?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Chavez. »Ich weiß nur, dass Ragnar Hellberg ihr absolute Schweigepflicht auferlegt hat. Sie hat sie schon gebrochen, als sie mir die Fotos zeigte. Sie hat sie selbst entwickelt. Zu Hause bei sich. Aufgrund einer Ahnung, dass der Pädophile das Nachspiel des Kvarnenmords eingefangen haben könnte. Einer Ahnung, mit der sie ins Schwarze traf.«
»Bei sich zu Hause?« fragte Hultin vielsagend.
Chavez schwieg. Schwieg und war stolz. Stolz über sein Schweigen.
»Warum nimmst du wegen Sara Svenhagen solche Unannehmlichkeiten in Kauf?« fuhr Hultin fort, obgleich er zu verstehen begann.
Jorge Chavez trat einen Schritt näher, beugte sich über den Schreibtisch und sagte klar und deutlich: »Weil ich sie liebe.«
28
U nd sie liebte ihn. Es kam ihr ein bisschen pathetisch vor.
Sie kannte die Handbücher auswendig. Sie wusste, dass die Liebe langsam wachsen und mit viel Sorgfalt gepflegt werden sollte, dass es Zeit braucht, eine Beziehung zu etablieren, dass die Liebe nichts ist, was einfach mit einem Flupp auftaucht, mir nichts, dir nichts, fix und fertig. Sie glaubte absolut nicht an Liebe auf den ersten Blick. Und richtig, der erste war es ja auch nicht.
Aber fast.
Sie, die geglaubt hatte, immun zu sein. Sie, die geglaubt hatte, allzu viel gesehen und gehört zu haben, um für Amors Pfeile empfänglich zu sein. Sie, die geglaubt hatte, dass die Pädophilenpfeile ihr gesamtes Gefühlsleben versenkt hätten. Aber sie erkannte, wie stark der Mensch trotz allem war, wie viel der Mensch tatsächlich ertrug.
Sie stellte sich sämtliche kritischen Fragen. War es wirklich Liebe? Hatte er sich nicht nur in einem Augenblick offenbart, da ihre Gefühle in Aufruhr waren? Hatte er nicht seine in jeder Hinsicht sanfte Zunge auf unehrliche Art und Weise gebraucht? War sie nicht einem klassischen Latino-Verfüh-rungsritual zum Opfer gefallen?
Doch die kritischen Fragen reichten nicht weit. Sie dachte die ganze Zeit an ihn. Sie war froh, erwartungsvoll, sehnsüchtig. Frische Energie hatte von ihr Besitz ergriffen, und sie arbeitete mit einem ganz neuen Schwung.
Denn merkwürdigerweise hatte die Liebe keinen lähmenden Effekt auf einen von ihnen, wie bei Teenagern. Dies musste vielleicht eine reifere Liebe genannt werden, die sich befruchtend auf die Arbeit auswirkte. Beide arbeiteten härter als vorher, was in beiden Fällen unmöglich zu sein schien, und beide fanden, dass sie klarer dachten. Jorge hatte aus dem Handgelenk die ganze Sicklaschlacht zusammengefasst, und Sara überblickte ihre Situation mit großer Klarheit.
Sie hatte zwei Dinge zu tun. Erstens hatte sie eine Liste durchzuarbeiten, die Adressenliste, auf der sie John Andreas Wireus gefunden hatte und die sich so flüchtig auf der flüchtigen Pädophilen-Homepage offenbart hatte. Zweitens musste sie einen Computer überprüfen, nämlich den von John Andreas Wireus. Als erstes würde sie mit Hilfe der Spuren auf seinem Rechner die Homepage zu lokalisieren versuchen, die seine E-Mail-Adresse aufgespürt und auf jene Adressenliste gesetzt hatte, die sie irrtümlich für ein
Weitere Kostenlose Bücher