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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Mädchen Traum und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten können!«
    Greta meinte höhnisch: »Du gibst dich also jeden Donnerstag mit einer Schizophrenen ab?«
    Ich antwortete nicht und blätterte weiter. »Krebs = Fisch = Fischschuppenkrankheit« stand im Anhang zu lesen. Sollte wohl witzig sein.
    Mit Greta war heute weniger zu spaßen. Mit finsterer Miene nahm sie Dufflecoat und Baskenmütze vom Haken und verließ wortlos das Haus. Gekocht hatte sie noch gar nichts, wenn auch gewisse Einkäufe auf ein geplantes wollweißes Essen hinwiesen: Teltower Rübchen, Basmati-Reis und Hühnerbrust. Sollte ich selbst kochen? Sollte ich
    Ursula anrufen und ihr mitteilen, daß sie ihren Krempel vergessen hatte? Ich hatte wenig Lust, am Ende mit ihren Eltern reden zu müssen, und ließ es bleiben. Aufs Kochen hatte ich erst recht keinen Bock, also schmierte ich mir ein Butterbrot, legte außer goldgelbem Gouda rote Tomatenscheiben darauf und streute aufsässig noch grünen Schnittlauch darüber. Dann las ich endlich mein Horoskop: »Single-Fische können mit einer aufwühlenden Begegnung rechnen.«
    Nur deshalb wählte ich nach langem innerem Ringen Ursulas Nummer, die ebenfalls im schwarzroten Büchlein stand. »Hallo!« sagte eine weibliche Stimme. - »Ursula?« fragte ich zurück.
    Sie sei Ursulas Mutter, kam die Antwort, ihre Tochter sei wie meistens nicht zu Hause. Mit wem sie denn spreche? Ich erschrak maßlos - wie hatte ich bloß dieses burschikose Organ mit Ursulas mädchenhafter Stimme verwechseln können! Aber ich legte blöderweise nicht auf, sondern gab mich als Musiklehrer zu erkennen.
    »Gut, daß ich Sie mal an der Strippe habe«, sagte die Frau, »ist es denn wirklich nötig, daß das Kind stundenlang bei Ihnen proben muß! Spätabends und völlig überfordert kommt Ursula nach Hause. Es wäre viel wichtiger, daß sie sich auf die anderen Fächer konzentriert ... Im übrigen dachte ich, sie wäre immer noch bei Ihnen!«
    Sollte ich meinen Augenstern, der seit vielen Stunden nicht mehr in meiner Nähe leuchtete, schnöde verraten? Ich ging nicht weiter auf dieses Thema ein, sondern sagte bloß: »Sie hat ihre Noten bei mir vergessen. Sagen Sie ihr doch -«
    »Ach, und noch was«, unterbrach mich Ursulas Mutter, »auch ein Lehrer sollte mit der Zeit gehen! Händel oder Haydn oder was Sie da mit ihr singen, das spricht doch heutzutage keinen jungen Menschen an. Ich habe das Gefühl, Sie können sich in unsere Jugend überhaupt nicht mehr einfühlen.«
    Ursula schien mich als Fossil der Steinzeit geschildert zu haben. Trotzdem versuchte ich, gut Wetter zu machen.
    »Was würden Sie denn vorschlagen?« fragte ich zuckersüß.
    »Auf jeden Fall ein Musical«, sagte sie, »zum Beispiel Starlight Express, habe ich neulich in Bochum gesehen. Große Klasse! Leider behaupten unsere beiden Kinder, Musicals seien megaout. Aber man muß ihnen schließlich die Kultur nahebringen, sonst -«
    »Nun, wenn Ursula Musik studieren will«, wandte ich vorsichtig ein, »sollte sie auch über die Klassik Bescheid wissen. Und außerdem muß ich mich in etwa an den Lehrplan halten.«
    »Musik studieren? Hat sie Ihnen etwa diesen Bären aufgebunden? Nein, unsere Ursula will Stewardeß werden. Bei so einer Figur braucht sich ein Mädchen doch nicht auf der Uni abzuquälen!«
    Schleunigst machte ich dem Gespräch ein Ende. Wie alt mochte Ursulas Mutter sein? Höchstens zehn Jahre älter als ich, aber sie tat so, als sei ich ihr Großvater. Meine Schöne hatte zu Hause ein wenig geschwindelt. Wo mochte sie hingehen, wenn sie mich verließ? Und wo war Greta abgeblieben? Auf Weiber war kein Verlaß. Frustriert rief ich bei Dankward an, aber er meldete sich nicht. Ich hatte Lust, mich zu besaufen, fand aber nur Kräuterlikör und Cassis. Den Wein hatte ich bereits intus.
    Auf dem Küchentisch lag immer noch das schwarzrote Büchlein. Widerwillig schenkte ich mir ein winziges Gläschen Kräuterlikör ein und blätterte Ursulas Heft ganz langsam und sorgfältig durch. Wie jung sie noch war! Wie kindlich die Schrift! Und wie liebevoll sie die kleinen Zeichnungen und Abziehbildchen eingefügt hatte!
    »Mein Geburtstag« las ich auf der Seite für den 18. Januar. Neben diesen wichtigen Eintrag hatte sie brennende Kerzen und so etwas wie einen Ziegenbock mit Sprechblase gezeichnet. Juchuuu! rief das schafsartige Tier. Nach kurzem Grübeln rekapitulierte ich, welches Sternzeichen zuständig war - der Steinbock. Ein inniges Gefühl der Verbundenheit

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