Falsche Zungen
durchströmte mich, weil ich mein Schätzchen durchschaut hatte: Der Steinbock war nichts anderes als ein Selbstporträt. Ich blätterte im lateinischen Wörterbuch und brachte einen Toast auf den Capricornus aus! Erneut schenkte ich mir Likör ein und las endlich Ursulas Horoskop für diese Woche: »Das Alter spielt bei der Liebe keine Rolle. Sie haben den nötigen Elan, um sich gegen die Vorurteile Ihrer Umwelt durchzusetzen. Folgen Sie Ihrem Herzen!«
Ein klarer Befehl. Hoffentlich hielt sich Ursula daran und gehorchte. Als Memento schnitt ich diese Zeilen aus und klebte sie vorsichtig in das reizende Heft. Mit roter Lehrertinte malte ich kleine Herzen als Umrandung und spendierte dem Bock, biologisch unkorrekt, einen riesigen Euter zwischen die Vorderbeine. Schließlich verbrachte ich bei Likör, Cassis und Miniaturmalerei einen wunderbaren Abend. Als Greta um Mitternacht noch nicht zu Hause war, legte ich mich glücklich ins Bett.
Das Erwachen war weniger angenehm. Das Schlafzimmerfenster, das Greta sonst weit geöffnet hielt, war hermetisch verschlossen, die Luft stickig und verbraucht. Mir brummte der Schädel, die Zunge klebte wie ein ausgetrocknetes graues Schwammtuch am Gaumen. Auf dem Weg ins Bad sah ich Greta im Wohnzimmer auf dem Sofa kampieren; flugs schloß ich die Tür und hoffte, daß sie so bald nicht erwachte. Nach dem Duschen stand ich in der
Küche und trank literweise Mineralwasser. Um neun Uhr begann mein Unterricht, ich mußte mich sputen. Das Büchlein lag nach wie vor auf dem Küchentisch, aber es war nicht auszuschließen, daß Greta noch zu später Stunde meinen Beitrag entdeckt hatte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, die Plastiktüte mit in die Schule zu nehmen und Ursula zu übergeben. Aber als ich das Büchlein erneut zur Hand nahm, schämte ich mich in Grund und Boden - war es wirklich ich, der diese pubertären Anzüglichkeiten und schwachsinnigen Liebesbeteuerungen hineingeschrieben hatte? Großer Gott, da half kein Tintentod, sondern nur noch die radikale Eliminierung. Ich würde standhaft leugnen, daß in der Tüte etwas anderes als Noten gewesen wären.
Schneller als gedacht mußte ich mich rechtfertigen. Vor dem Lehrerzimmer erwartete mich Ursula. »Haben Sie meine Noten?« fragte sie, »meine Mutter -«
»O je, ich wollte sie Ihnen eigentlich mitbringen, aber die Plastiktüte befindet sich wohl noch bei mir zu Hause. Auch Lehrer sind gelegentlich vergeßlich«, sagte ich. »Sie können ja am Nachmittag vorbeikommen, auch wenn heute erst Dienstag ist.«
Sie nickte ein wenig kläglich und eilte davon.
Als ich mittags nach der bewußten Plastiktüte suchte, war sie ebenso unauffindbar wie das Büchlein, dessen umgehende Liquidierung beschlossene Sache gewesen war. Ich stellte fast die ganze Wohnung auf den Kopf, bis ich zu dem naheliegenden Schluß kam, daß Greta dahintersteckte. Also begann ich, ihren Schreibtisch zu durchwühlen. Vergeblich.
Schließlich stand Ursula vor der Tür. »Hallo!« sagte sie, ein bißchen verlegen, wie mir schien. »Ich muß meine Tüte im Flur vergessen haben. Dort - bei den Mänteln!«
Wie idiotisch von mir, daß ich ihre Mutter angerufen und zugegeben hatte, daß Ursula ihre Siebensachen nicht zusammenhielt! Wie sollte ich mich jetzt aus der Affäre ziehen?
»Kommen Sie erst mal herein«, sagte ich liebenswürdig, »ich habe gerade nach Ihren Noten gesucht und sie nicht gefunden. Ich kann es mir nur so erklären, daß meine Putzfrau die Tüte versehentlich in den Müllcontainer geschmissen hat. Natürlich bekommen Sie neue Noten von mir, das ist Ehrensache.«
»Es waren nicht bloß Noten«, sagte Ursula, »viel wichtiger ist mir ein kleines Heft mit meinem Stunden- und Terminplan, mit Adressen und Telefonnummern. Eigentlich nicht zu ersetzen.« Ratlos blickten wir uns an.
»Ich werde weitersuchen und natürlich die Putzfrau befragen«, versprach ich. Ganz plötzlich brach Ursula so heftig in Tränen aus, daß es mir in tiefster Seele weh tat. Behutsam strich ich ihr über das seidige Kinderhaar und sagte tröstend: »Nicht gleich verzweifeln! Falls sich das Büchlein wirklich nicht mehr findet, will ich alles tun, um den Verlust wiedergutzumachen.« Sie nickte, rieb sich die Äuglein und reichte mir zum Abschied ihre klebrig-nasse Pfote.
Kaum war ich wieder allein und kramte verzweifelt weiter, als Greta auftauchte. »Was machst du an meinem Kleiderschrank?« fragte sie scharf. Ich ging sofort in die Offensive: »Du hast die Sachen
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