Falsche Zungen
Befangenheit. Um meine Gesundheit zu demonstrieren, erwähnte ich ganz nebenbei eine zweitägige Radtour, die ich am Wochenende unternommen hätte. Zu spät fiel mir ein, daß mir eines der beiden pickligen Jüngelchen in der Nachbarstadt bei C&A begegnet war. Falls er sich ebenfalls erinnerte und seinen Kameraden von meinem Kauf eines karierten Hemds erzählte, würden sie mich wahrscheinlich für einen todkranken Meister der Verdrängung halten.
Bei der nächsten Sonderprobe erklärte ich meiner Herzensschönen, daß ich wegen einer leichten und völlig harmlosen Hautreizung eine spezielle Creme benutzen mußte, deren Reaktion auf meinem Kopf vielleicht einen irritierenden Eindruck hinterlassen habe . Sie schien mir zu glauben, setzte sich nach Ablauf der Stunde sogar freiwillig zu mir an den Küchentisch, lehnte jedoch ein Glas Wein erschrocken ab. Sie sei leidenschaftliche Teetrinkerin. Also suchte ich eine Kanne und kramte in Gretas Vorräten, bis ich auf eine rote Teesorte stieß.
Dann fragte ich Ursula nach ihrer Lebensplanung. Sie habe bis zum Abi ja noch ein ganzes Jahr Zeit, sagte sie. Dagegen sei ihr armer Bruder schon bald mit der Qual der Wahl konfrontiert, zuvor jedoch mit dem anstehenden Abitur samt Musikprüfung. Ich kann im nachhinein gar nicht mehr sagen, wie es geschah, aber irgendwie entlockte sie mir das Abiturthema für ihren Bruder.
Er ahne ja bereits, daß es um Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin gehe, sagte sie. Und ich fuhr fort: »Stimmt genau. Wie ich ihn kenne, wird er meine Fragen mit Bravour beantworten können, denn es geht mir um die Motivik der Klavierbegleitung im allgemeinen und im besonderen!«
»Welches Lied im besonderen?« fragte sie und sah mir tief in die Augen.
Ich pfiff: »Das Wandern ist des Müllers Lust«, und sie schenkte mir ein bezauberndes Lächeln. Dann verschwand sie wieder so rasch wie Aschenputtel nach dem großen Ball, verlor aber keinen Pantoffel, sondern vergaß im Flur eine Plastiktüte.
Greta kam, wie fast immer, fröhlich nach Hause. Sie erzählte stolz, daß sie in der Volkshochschule in Vertretung einer schwangeren Kollegin den Kurs Das Spiel auf der Sopranblockflöte - Fortgeschrittene leiten werde. Schon lange war es ihr Wunsch, auch außerhalb der Musikschule Unterricht zu erteilen. Abgesehen davon habe sie nun die Möglichkeit, selbst kostenlos Kurse zu besuchen. Sie schwanke noch zwischen Schleiertanz-Phantasien und Schlemmerfeste im Freien. Und nach dieser frohen Botschaft packte sie endlich die Lebensmittel aus ihrem Korb und sorgte für Ordnung in Küche, Bad, Schlafzimmer und Diele.
Mir fällt nie auf, wenn etwas herumliegt. Fürs Aufräumen war Greta zuständig. Mit Luchsaugen entdeckte sie sofort alles, was auch nur im geringsten auf die Spur einer anderen Frau hinwies. Eine dritte Tasse in der Spülmaschine, eine Haarklammer im Bad, das rasche Auflegen eines ungenannten Anrufers - stets interpretierte sie solche Belanglosigkeiten als Beweis meiner Untreue. Im Fall Ursula war es aber leider noch nicht zu einer Annäherung, sondern bloß zu drei Gesangsproben gekommen, als Greta die Plastiktüte im Flur erspähte. Ich las gerade in aller Seelenruhe die Zeitung, als ich durch ein unheilvolles Knurren aufgeschreckt wurde. Greta hatte den Inhalt der Plastiktüte auf den Küchentisch geschüttet und untersuchte mehrere triviale Gegenstände mit kriminalistischem Eifer.
Vor ihr lagen Noten, ein Lippen-Fettstift, ein Müsliriegel und eine leere Coladose, eine Packung Tempotücher und ein Notizbuch, das wohl als Terminkalender diente. Greta dachte gar nicht daran, mir das schwarzrote Büchlein auszuhändigen, sondern las laut Ursulas Name und Anschrift vor, denn anscheinend war alles ordentlich auf dem Deckblatt vermerkt. Dann studierte sie aufmerksam sämtliche Eintragungen meiner Schülerin. Als sie endlich fertig war, schob sie mir das kleine Buch über den Tisch und sah mich dabei an wie einen überführten Kinderschänder.
Ich blätterte. Dreimal stand von zarter Hand geschrieben: »Bei Thomas«.
Niemals hatte mich Ursula mit dem Vornamen angesprochen, stets hatte sie völlig korrekt »Herr Krebs« und »Sie« zu mir gesagt. Einerseits besagte die Formulierung, daß sie in Gedanken bereits eine gewisse Intimität zu mir hergestellt hatte, andererseits hatte Greta nun einen mutmaßlichen Beweis für meine Charakterlosigkeit in der Hand.
»Du weißt doch selbst am besten«, versuchte ich mich zu rechtfertigen, »daß junge
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