Falscher Ort, falsche Zeit
verstohlen agiert. Als ich noch für die halbe Unterwelt New Yorks – zumindest kommt es mir so vor – arbeitete, musste ich häufig Leute zur Strecke bringen, die mein Gesicht nie gesehen hatten. Aber in der Regel bin ich nur allzu bereit, jeden Auftrag und jeden Gegner mit offenem Visier anzugehen.
Ich habe meine schmutzigen Tricks aufgegeben, weil ich in meinem Job und meinem Leben das Richtige tun will. Aber das hat nichts an meinem Kampfstil geändert – einem Stil, von dem ich instinktiv wusste, dass ich es damit nicht bis zum Ende dieser Phase meines Lebens schaffen würde.
Also vermied ich es, Rinaldos Aktenkoffer sofort zu öffnen. Stattdessen saß ich da und ließ mir die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden durch den Kopf gehen, ohne mich dem Druck auszusetzen, ihnen meinen Willen aufzwingen zu müssen.
Ein oder zwei Dinge hatte ich herausgefunden. Ich wusste zum Beispiel mit unumstößlicher Sicherheit, dass ich Aura Antoinette Ullman liebte. Als ich sieGeorge Toller küssen sah, hatte ich die Kontrolle verloren – etwas, das mir sonst nie passierte.
Das war ein Detail, das ich unter sicher verbuchen konnte. Es spielte keine Rolle, ob sie zu mir zurückkam oder nicht – ich würde trotzdem diese wilde Liebe in mir haben.
Ich lächelte aufrichtig und lachte ein bisschen. Die kleinen Siege sind oft die, die man sich am härtesten verdient.
Ich drehte den Aktenkoffer um, ließ die Schnappschlösser jedoch weiter unangetastet.
Twill, mein hervorragender Sohn, hatte das Telefon an Dimitri weitergegeben und war gegangen, damit ich keine weiteren Fragen stellen konnte. Das bedeutete, dass er mir etwas verheimlichte. Twills Geheimnisse hatten nichts mit denen der meisten Jugendlichen zu tun. Es ging nicht um heimliches Kiffen im Waschkeller oder um die ausgebliebene Periode einer Freundin. Was immer er vor mir verbarg, musste aufgedeckt werden, bevor die beiden jungen Männer, die zwar meinen Namen, aber nicht mein Blut teilten, zu tief in den Schlamassel gerieten, den sie selbst angerichtet hatten.
Und so fügte sich ein weiteres Detail hinzu.
Ich rief Gordo an, erreichte jedoch nur seinen Anrufbeantworter, auf dem er mich mit seiner rauen Stimme aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.
»Ich hab gehört, du hast Schnupfen, G -Man«, sagte ich. »Ruf mich an, wenn du Hühnersuppe brauchst.«
Ich wandte mich wieder dem Aktenkoffer zu.
Und dann fragte ich mich ohne jeden Grund, was für Blumen ich mir für mein Büro besorgen würde, sollteich jemals Blumen aufstellen wollen. Nachdem ich nun eine Sekretärin hatte, konnte ich sie zu dem Blumenladen unten schicken, um Orchideen oder Rosen zu kaufen … oder Wildblumen.
»Mr. McGill?«
Sie stand in ihrem 50er-Jahre-Kostüm in der Tür und lächelte gequält.
»Ja, Mardi. Komm rein und setz dich.«
Den anstehenden Job vor mir herzuschieben, bereitete mir langsam richtig Vergnügen.
Das Kind huschte eilig zum Stuhl, als hätte sie Angst, ich könnte meine Einladung zurückziehen.
»Ich bin online, und ich bin alle Schubladen und Schränke durchgegangen«, sagte sie. »Und ich habe die Speisekarten aller Liefer-Services sortiert.«
»Danke.«
»Schon gut«, sagte sie und strich ihr aschblondes Haar über ihre linke Schulter.
»Seit wann bist du zurück in der Stadt?«, fragte ich.
»Seit fünf Wochen.«
»Das hat Twill mir gar nicht erzählt. Hast du dich erst vor kurzem bei ihm gemeldet?«
»Nein. Er hat mich vom Flughafen abgeholt.«
Ich erinnerte mich, dass er meinen Wagen geliehen hatte.
»Dann hast du ihn in letzter Zeit also häufig gesehen«, sagte ich.
»Ja. Er und D haben mir beim Umzug in Mrs. Alexanders Wohnung geholfen.«
»Hast du Dimitri auch oft getroffen?«
»Manchmal kommt er zusammen mit Twill. Zuerstdachte ich, er mag mich. Ich meine, er ist ein netter Junge, aber ich mag ihn nicht auf diese Art. Aber jetzt hat er eine Freundin, und ich glaube, dass er sich nur so benimmt, weil er vor Mädchen schüchtern ist.«
»Ist die Freundin nett?«
»Glaub schon. Ich hab sie nur ein paar Mal getroffen. Ich glaube, sie heißt Tanja oder so ähnlich. Sie ist Russin oder so.«
»Hast du sie gestern getroffen?«
»Nein. Sie ist vor ein paar Wochen mit D vorbeigekommen.«
Mardi wand sich ein wenig auf ihrem Stuhl. Ich lehnte mich zurück und hob die Hände.
»Und«, sagte ich. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich hatte noch nie einen Job wie diesen.«
»Und ich hatte noch nie eine Empfangssekretärin«,
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