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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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sagte ich.
    »Aber Twill hat immer gesagt, dass Sie dieses große leere Büro haben und sich nichts so sehr wünschen wie jemanden am Empfang.«
    »Dimitri redet nicht mit mir, und Shelly hält nie so lange den Mund, dass ich ein Wort dazwischenbekomme«, sagte ich. »Aber Twill ist auf jeden Fall aufmerksam.«
    »Was soll ich für Sie tun?«, fragte sie.
    Ich zückte die rotbraune Lederbrieftasche, die ich 1976 bei Macy’s gekauft hatte. Sie war alt und fiel auseinander. Aber ich liebte sie. Ich zog die Kreditkarte heraus, die ich für meine kleine Firma besorgt hatte.
    »Eröffne damit ein Konto bei einem Internet-Händler für Bürobedarf. Bestell, was du brauchst, um die Sekretariatsarbeiten zu erledigen, die ich dir vielleicht auftrage. In den nächsten paar Tagen gehst du die Akten durch und sortierst sie. Im Rolodex steht die Nummer von Zephyra Ximenez, der Nachname schreibt sich mit X statt mit J . Sie macht von ihrem Büro aus schon seit einer Weile die Sekretariatsvertretung für mich. Ihr beide solltet euch kennenlernen. Außerdem findest du einen Eintrag für Tiny Bateman. Er ist mein IT -Spezialist. Wenn der Computer oder ein anderes elektronisches Gerät nicht funktioniert, kann er das Problem beheben. Und wenn dir irgendwas unlogisch vorkommt, frag einfach mich.«
    Ein ernstgemeintes Lächeln von Mardi Bitterman war wie ein Kuss von jeder anderen jungen Frau. An ihren blassen Augen sah ich, dass sie die perfekte Assistentin für mich sein würde – gleichsam die Verletzte, die den Versehrten führt.
     
    Ausgestattet mit einem zweiten Satz Schlüssel für die Eingangstür verließ Mardi das Büro. Es gab nichts mehr, das mich davon abhalten konnte, Rinaldos Koffer zu öffnen. Ich tippte auf das dunkelgraue Leder, legte die Daumen auf die Schlösser und wollte sie gerade aufschnappen lassen, als mein Handy das Geräusch ziehender Gänse von sich gab.
    »Hast du mit ihnen gesprochen?«, erwiderte Katrina meine Begrüßung.
    »Nein«, log ich, »aber Twill hat mir vor einer halben Stunde eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Er hat gesagt, er sei mit D am College, und die beiden wollten heute Abend auf irgendeine Party gehen. Ich fürchte, er hat Angst, mit einem von uns beiden persönlich zu reden.«
    »Aber er klang okay?«
    »O ja. Die beiden sind bloß zwei Jungs auf der Suche nach einem Abenteuer, Schatz.«
    Das nachfolgende Schweigen war Ausdruck ihrer Erleichterung.
    »Ich hab einen Job, um den ich mich kümmern muss, Katrina.«
    »Sag mir Bescheid, wenn du mit einem von beiden gesprochen hast«, sagte sie. »Und sag Dimitri, er soll mich anrufen.«
     
    Ich rief das Sekretariat von Twills Schule an, um zu melden, dass er an einer Magen-Darm-Grippe erkrankt war. Danach erzählte ich seiner Sozialarbeiterin die gleiche Lüge.
    »Wie macht er sich so?«, fragte ich Melissa Tarris, beim Jugendamt zuständig für straffällig gewordene Jugendliche.
    »Ich habe noch nie einen Menschen wie Ihren Sohn getroffen, Mr. McGill. Er könnte Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn wir sein Strafregister gelöscht kriegen.«

13
    Mit vollem Namen hieß sie Angelique Tara Lear.
    Sie war am 7. Oktober siebenundzwanzig geworden. Die Adresse, die in Rinaldos Aktenkoffer für mich bereitlag, war eine andere als die, wo die Morde stattgefunden hatten. Tara wohnte in der 12 th Street auf der East Side am Rande des Dschungels von Alphabet City. Es gab ein Foto von ihr, auf dem sie vor einem Café saß. Wahrscheinlich war es ohne ihr Wissen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden. Sie sah aus, als sei sie in ein Gespräch vertieft.
    Sie war ein schwarzhaariges Kind mit abenteuerlustigem Blick, trotz ihrer nüchternen, beinahe zurückhaltenden Kleidung. Sie trug eine weiße Bluse, die wie ein Männerhemd geknöpft war. Ich stellte mir vor, dass sie dazu einen dunkelblauen Rock trug, der bis über die Knie ging. Aber wie sehr sie sich auch anstrengte, normal und reserviert zu wirken, strahlte sie eine Ausgelassenheit und die Art Achtlosigkeit aus, die das männliche Tier jeden Alters wild macht.
    Ich betrachtete das Bild sehr lange. Sie beugte sich lachend vor. In ihrem Blick lag etwas Schalkhaftes, und sie neigte den Kopf, als wollte sie sagen: Höre ich da etwas hinter deinen Worten? Nach einer Weile kam ich zu der Ansicht, dass ihre Wildheit nicht die eines Party-Girls war – ansonsten hätte sie Make-up und aufreizendere Kleidung getragen. Nein. Angelique war einfach glücklich – beinahe und

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