Falscher Ort, falsche Zeit
Champs-Élysées en été .
Ich ignorierte die Liebenden und versuchte, das Leben von Angelique Lear zu verstehen. Ihr Freund hatte sie betrogen. Ihre von ihr unterstützte Mutter nannte sie eine Hexe. Ihre Freundin war ermordet worden, möglicherweise an ihrer Stelle, und der mächtigste Mann von New York war besessen von jeder ihrer Bewegungen und jeder ihrer Bekanntschaften. So viel Leben schafften die meisten nicht mal in einem ganzen Jahrzehnt.
Mein Telefon läutete wie ein chinesisches Windspiel.
»Hey, Zephyra. Raten Sie mal, wo ich bin.«
»So wie es aussieht, im Naked Ear.«
»›So wie es aussieht?‹«
»Sie haben das GPS auf Ihrem Handy wieder eingeschaltet«, sagte sie. »Ich könnte Ihnen auch genau sagen, wo Sie sind, wenn Sie in Peking oder Timbuktu wären.«
Zephyra Ximenez war meine Rettungsleine in den elektronischen Weiten. Ich sah sie fast nie. Sie erledigte neunundneunzig Prozent ihrer Arbeit per Telefon oder online. Sie hatte eine dominikanische Mutter und einen marokkanischen Vater – eine Herkunft, die ihr dunkel rotschwarze Haut und ein Aussehen beschert hatte, das Schönheit eher neu definierte, als ihr nachzulaufen. Ich hatte sie im Naked Ear kennen gelernt und versucht, sie abzuschleppen, doch sie hatte keinen Vaterkomplex. Als ich ihr von meiner Arbeit erzählte, bot sie mir ihre professionellen Dienste an.
Auf lange Sicht war das für uns beide der bessere Deal.
»Lieutenant Bonilla – als ich zum letzten Mal mit ihr gesprochen habe, war sie noch Sergeant – und Detective Kitteridge haben beide angerufen und Ihr Erscheinen verlangt.«
»Was haben Sie ihnen gesagt?«
»Dass ich die Nachricht so bald wie möglich an Sie weiterleiten würde.«
»Ich habe eine Empfangssekretärin angestellt«, sagte ich. »Eine junge Frau namens Mardi Bitterman.«
»Echt? Wow. Mit mir, Bug Bateman und jetzt dieser Mardi haben Sie beinahe ein richtiges Büro.«
»Ja. Zu den Bürozeiten können Sie von jetzt an auch sie benachrichtigen, wenn Sie mich nicht erreichen.«
»Ihre Drinks«, sagte Cylla.
Sie brachte sie auf einem altmodischen dunkelbraunen Korktablett.
»Ist das Cylla?«, fragte Zephyra.
»Ja.«
»Geben Sie sie mir mal kurz, ja, Boss?«
Während die beiden jungen Frauen schwatzten, trank ich den ersten Schluck Cognac und fragte mich, was das Vibrieren in meiner Brust zu bedeuten hatte. Es machte mich glücklich, Cylla mit Zephyra lachen zu sehen. Die gleiche jugendliche Ausgelassenheit wünschte ich auch Angie, machte mir jedoch wenig Hoffnungen.
Gegen Mitternacht verließ ich die Kneipe und ging ein Stück zu Fuß. Mir war ehrlich nicht bewusst, dass ich zu Lucys Adresse unterwegs war, bis ich vor ihrer Haustür stand.
In ihrer Wohnung brannte Licht. Von irgendwoher ertönte Jazzmusik. Ich war wieder ein Teenager, betrunken nach seinem ersten verbotenen Saufgelage und leidenschaftlich verknallt in ein Mädchen.
In meinem Alter war dieses Gefühl besser als Liebe. Es war der Moment, bevor man das Objekt seiner Zuneigung wirklich kennen lernte. Ihre Brustwarzen und die Geräusche, die sie im Schlaf von sich gab, lagen noch im Reich des Unbekannten. Sie hatte keine Geheimnisse, weil sie im Ganzen ein Mysterium war. Und ich hatte keine Macht über sie, weil sie mir noch keine eingeräumt hatte.
Als ich vor ihrer Tür stand, hatte ich zwei Möglichkeiten. Die eine war zu klingeln.
Ich nahm mein Telefon aus der Tasche, schaltete das GPS aus und wählte eine Nummer.
»Lieutenant Bonilla«, meldete sie sich nach dem dritten Klingeln.
»Sie wollten mich sehen, Lieutenant?«
Wir trafen uns in einer Bar in der 81 st Street, die offiziell um ein Uhr schloss, jedoch für Polizisten und spezielle Stammgäste auch darüber hinaus geöffnet hatte.
Bonilla war schon da, als ich kam. Sie saß in einer verblichenen roten Nische und trug ein stahlgraues Kostüm mit definitiv männlichem Flair.
Ich nahm ihr gegenüber Platz und nickte ihr zu.
»Haben Sie mit Kitteridge gesprochen?«, lauteten ihre ersten Worte.
»In letzter Zeit nicht. Er wollte, dass ich heute Nachmittag zu ihm komme, aber ich habe mich geweigert.«
»Sie sollten Carson nicht unterschätzen.«
Die Polizistin bot mir einen guten Rat an, aus Intuition und jenseits der bürokratischen Vorschriften ihres Berufs. Sie spürte, dass ich in einem Zwiespalt steckte.
Carson Kitteridge war der einzige von Natur aus ehrliche, höherrangige Polizist, mit dem ich es je zu tun bekommen hatte. Seiner
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