Falscher Ort, falsche Zeit
beobachtet hatte, und die Großnichte der alten Frau, die allmählich Gefühle für den Einbrecher entwickelte.
Dann stieß jemand einen Verkaufsständer neben dem Stuhl um, auf dem ich saß und las. Das Scheppern rissmich aus der Geschichte heraus, und ich fand nicht wieder hinein. Also stand ich auf, ging zur U -Bahn, nahm einen Zug der Linie 1 und stand dort dicht gedrängt mit Pendlern, die von Jobs heimkehrten, die sie nicht haben wollten, in Leben, die sie sich so nie vorgestellt hatten.
Die Tageslichtstunden waren nicht verschwendet gewesen. So beunruhigend das Treffen mit Hush auch gewesen sein mochte, hatte es mir doch geholfen zu entscheiden, welchen Weg ich einschlagen musste, um Angie zu suchen. Aber solange die Sonne noch am Himmel stand, konnte ich nichts unternehmen, also trat ich den Heimweg an, entschlossen, eine weitere kalte Dusche zu nehmen, nach der ich bereit sein würde, meine Klientin zu finden und sie über unsere bisher verborgene Beziehung zu unterrichten.
Die Lobby unseres Hauses war in eine kleine Folge von Räumen unterteilt, eine Erinnerung an eine gediegenere Ära des New Yorker Lebens. Ich stand auf dem abgewetzten Teppich, überlegte kurz und entschied mich dann für Fahrstuhl statt Treppe. Ich musste meine Kräfte für den anstehenden Job aufsparen.
»Mr. McGill?«, sagte sie.
Ich hörte Anklänge an ein gutturales osteuropäisches Rollen sowie ein leichtes Zittern in der jungen weiblichen Stimme.
Sie kam aus einer Nische rechts von mir. Es war ein kleiner Raum mit Sitzgelegenheiten, in dem tagsüber manchmal ältere Mieter saßen, wenn sie nach dem Einkaufen Luft holen mussten oder darauf warteten, dass die Wäsche im Keller durchgelaufen war.
»Ja?«, sagte ich und dachte, dass ich längst tot wäre, wenn sie eine Bekannte von Adolph Pressman gewesen wäre.
»Ich bin Tatjana Baranovich, eine Freundin Ihres Sohnes Dimitri.«
Sie war zwanzig, schlank und trug Kleidung, die verführerisch wirkte, aber nur ein ganz kleines bisschen. Ihr Make-up war zurückhaltend und komplett unnötig. Alles in allem strahlte sie eine konservative Erotik aus, an der sich skandinavische Büroangestellte gerne weiden.
»Ich habe mich schon darauf gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte ich.
Als wir uns die Hand gaben, blickte sie mir eindringlich in die Augen, weniger, um dort etwas zu sehen, als um zu zeigen, wie ernst es ihr mit ihrem Besuch war.
»Bleiben wir doch gleich hier unten«, sagte ich. »Dimitris Mutter würde nicht viel zu dieser Unterhaltung beitragen.«
Als ich ihr in die Sitzecke folgte, begriff ich, was meinen Sohn so verzückt hatte. Verdammt, ich konnte sogar verstehen, warum ein hartgesottener Zuhälter wie Gustav sie nicht gehen lassen wollte.
Wir nahmen auf zwei steifen Polsterstühlen Platz, die sich gegenüberstanden und mich irgendwie an die beengten Sitze auf einem überfüllten Charterflug erinnerten.
Tatjana rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, um ihr Unbehagen zu demonstrieren, das von ihrem ängstlichen Blick noch unterstrichen wurde.
»Ich ruf nur kurz Katrina an«, sagte ich.
»Wer ist das?«
» D ’s Mutter.«
»Oh.«
»Hallo?«, meldete sie sich nach dem zweiten Klingeln.
»Hey.«
»Leonid. Wo bist du?«
»Jemand hat mich auf dem Nachhauseweg abgefangen. Es könnte noch etwa eine Stunde dauern. Ich hoffe, das bringt deine Pläne nicht durcheinander.«
»Shelly ist heute länger an der Uni«, sagte sie. »Und die Jungs sind immer noch weg. Ich halte dir das Essen warm. Aber dafür muss ich jetzt auflegen, sonst verbrennt es mir noch.«
»Okay. Tschüss.«
Damit war sichergestellt, dass Katrina zu Hause war und nicht vorhatte auszugehen. Ich wollte nicht, dass sie mich zusammen mit Tatjana sah. Meine Frau hatte diese Eigenschaft – sie wusste, was eine andere Frau im Schilde führte, und Tatjana war ein veritables Leuchtfeuer von Absichten.
»Warum sind Sie hier?«, fragte ich sie.
»Twill hat gesagt, ich müsse mit Ihnen sprechen. Er hat mir den Schlüssel für die Haustür gegeben.«
»Sie hätten in mein Büro kommen können.«
»Dort habe ich angerufen, aber Sie waren nicht da. Twill hat gesagt, ich könne hier warten und sie würden bestimmt bald nach Hause kommen. Er hat gesagt, ich würde Sie schon erkennen, da ich ja Dimitri kenne.«
Auch mit all den Jahren der Erfahrung auf dem Buckel wollte irgendwas in mir diesem Mädchen vertrauen.
»Erzählen Sie mir von Gustav.«
Nach kurzem Zögern stellte sie knapp
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