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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ich habe ja noch einen Brief für dich, Tonio. Meine Mutter wäre sehr böse gewesen, wenn ich den vergessen hätte!« Er gab Tonio den Brief. »Und dein Gesang...«, begann er. »Vorhin in der Kapelle. Ich wünschte, ich wünschte, mir wäre die Sprache der Musik geläufig, so daß ich dir sagen könnte, wie schön er war.«
    »Die Sprache der Musik sind nur Töne, Giacomo«, antwortete Tonio. Und ohne zu zögern umarmten sie einander.

    Guido war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden, als Tonio ins Zimmer trat. Sie umarmten einander und standen lange Zeit so umschlungen da.

Aber Tonio hatte den Brief noch in der Hand, und er konnte ihn nicht aus seinen Gedanken verbannen. Als er sich aus Guidos Umarmung löste, um sich mit dem Schreiben an den Tisch zu setzen, sah er zum ersten Mal, wie sich Sorge und Zorn in Guidos Gesicht miteinander vermischten.

    »Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Tonio, während er den Perga-mentumschlag aufriß. Er trug Catrinas Siegel.
    »Weißt du wirklich?« Guido kam zu ihm, doch trotz des Ärgers in seiner Stimme waren seine Hände zärtlich. Er preßte seine Lippen auf Tonios Haar. »Dein Bruder hat ihn hergeschickt, um zu sehen, in welcher Gemütsverfassung du dich befindest« flüsterte er. »Hättest du nicht nur dieses eine Mal den scheuen kleinen Schüler spielen können, der keinerlei Selbstvertrauen besitzt?«
    »Den scheuen Eunuchen, der keinerlei Selbstvertrauen besitzt«, antwortete Tonio. »Sag es nur, denn das ist es doch, was du meinst. Den werde ich für niemanden spielen. Das kann ich nicht! Laß ihn doch nach Venedig zurückkehren und meinem Bruder erzählen, was er mag. Gütiger Gott, er hat mich zusammen mit Kindern und Engeln singen hören, nicht wahr? Er hat den gehorsamen Schüler doch gesehen, den gehorsamen Kastraten, genügt das denn nicht?«
    Der Brief war im matten Lichtschein kaum zu entziffern. Als er fertiggelesen hatte, blieb er lange einfach so sitzen. Dann las er den Brief noch einmal, und diesmal hielt er ihn danach an die kühle Flamme der Kerze, bis das Feuer heißer brannte, das Pergament zu knistern begann, aufgezehrt wurde und schließlich nur noch Asche war.
    Alle Kirchenglocken Neapels läuteten, es war Weihnachtsmor-gen. Ihr wunderschönes, gleichmäßiges Läuten drang durch die Wände wie der Schlag eines Pulses. Dennoch konnte er nichts fühlen, konnte nichts schmecken. Dennoch wünschte er sich nichts anderes mehr, als daß diese Zeit zu ihrem unvermeidlichen Ende gelangte.
    Warum hatte er zugelassen, daß er vergaß, was vor ihm lag?
    Wie hatte er es geschafft, zu leben wie andere, zu hungern, zu dürsten und zu lieben?
    Guido schenkte ihm Wein ein. Er hatte das Glas neben Tonios rechte Hand gestellt. Der Duft der Trauben erfüllte das Zimmer, und Tonio, der sich im Stuhl zurücklehnte, warf aus dem Augenwinkel einen teilnahmslosen Blick auf das Aschehäuf-chen, zu dem der Brief verbrannt war, dann auf das Essen, das unberührt, eine Artefakt seiner selbst, auf einem silbernen Teller lag.
    Er hatte sie geheiratet.
    Sie geheiratet! Das war es, was in dem Brief gestanden hatte.
    Eine Mitteilung, kaum mehr als eine schlichte Bekanntgabe. Er hatte sie geheiratet! Tonio spürte, wie er die Zähne aufeinan-derbiß, bis sie ihm weh taten. Vor seinen Augen verschwamm alles. Carlo hatte die Ehefrau seines Vaters geheiratet, die Mutter seines unehelichen Sohns, er hatte sie vor dem Dogen, dem Rat und dem Senat, den adeligen Herren und Damen von Venedig geheiratet. Er hatte sie geheiratet! Und jetzt wird er kräftige Söhne zeugen, meine kleinen Brüder! Diese Giacomos, diese Brüder, Brüder, die stets außer Reichweite waren, so als müsse die Vorstellung, Geschwister zu haben, für ihn ewig ein Traum bleiben. Andere dürfen daran teilhaben, andere liegen einander in den Armen. Eine herrliche Illusion.
    »Tonio, was immer es war, verbanne es aus deinen Gedanken«, hörte er Guidos Stimme leise und unaufdringlich hinter sich. »Verbanne diese Leute aus deinen Gedanken. Ihr Arm reicht weit. Laß nicht zu, daß sie dir weh tun.«
    »Bist du mein Bruder?« flüsterte Tonio. »Sag mir...« Er nahm Guidos Hand. »Bist du mein Bruder?«
    Guido, der diese schlichten Worte hörte, die mit ungewöhnlichem Gefühl gesprochen waren, konnte nur verwirrt nicken:
    »Ja.«
    Tonio erhob sich und zog Guido an sich. Seinen Zeigefinger legte er auf Guidos Lippen, so wie seine Mutter in jener letzten Nacht im Speisezimmer Carlo ihren Finger auf die Lippen gelegt hatte,

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