Falsetto
in die Stadt gesehen hatten. Sie wollten sich noch an diesem Abend die Schätze des Papstes im Vatikanmuseum ansehen. Gemeinsam zogen sie jetzt los, um verschiedene Gänge zu erledigen, und selbst das war schon ein Abenteuer.
Guido jedoch, der endlich allein war, konnte die bösen Vorahnungen, die Traurigkeit, die ihn den ganzen Weg von Neapel nach Rom bedrückt hatten, nicht abschütteln.
Was war es nur, das ihn nicht losließ?
Warum hatte Guido während der ganzen Fahrt nach Rom ständig an diese alte Tragödie, an den Verlust seiner Stimme denken müssen? Da er ein Mensch war, der nie über die Vergangenheit nachdachte, wurde er, wenn ihn diese doch einmal einholte, davon stets völlig überwältigt. Er mußte feststellen, daß seine Erinnerungen mit der Zeit keineswegs verblaßt waren.
Ach, vielleicht lag es letztendlich nur daran, daß er nicht an seinen Abschied von Maestro Cavalla und von dem Conservatorio, wo er seit seinem sechsten Lebensjahr gelebt hatte, denken wollte.
Vielleicht beschäftigte sich sein Bewußtsein mit diesem alten Schmerz, um sich vor dem Schmerz des Abschiednehmens zu schützen. Aber das glaubte er nicht. Er hatte keine Ahnung, woran es lag.
Schmerz und Verlustängste bedrückten ihn weiter. Sie waren vermischt mit der Erinnerung an das, was der Maestro in bezug auf Tonio gesagt hatte. »Zeig ihm, was die Welt ihm bieten kann, laß ihn alle Vergnügen genießen, nach denen er verlangt.«
Was also war es schließlich, was Guido fühlte? Die lebhafte Ahnung, daß er kurz davor stand, etwas überaus Kostbares zu verlieren, etwas, das ihm so wie seine Stimme genommen würde? Natürlich würde Tonio ihn niemals verlassen, um diese schreckliche Reise nach Venedig zu unternehmen, denn im Grunde hatte er nie wirklich vorgehabt, dorthin zurückzukehren. Natürlich nicht. Doch das Gefühl, die böse Vorahnung, die Furcht, sie blieben.
Selbst jetzt, als Guido ruhig in seinem Zimmer im Palazzo des Kardinals saß, ließen ihn diese Gedanken nicht los. Hinzu kam, daß er immer wieder daran denken mußte, was für ein Gesicht der Kardinal gemacht hatte, als sein Blick auf Tonio gefallen war. Welche Unschuld dieser Mann gezeigt hatte!
Ganz gewiß war er ein Heiliger, so wie alle behaupteten, sonst hätte er gewiß nicht erkennen lassen, wie fasziniert er von Tonio war. Sicher hätte er auch niemals einen solch törichten kleinen Scherz gemacht.
Der Kardinal hatte das Haus verlassen, nachdem er seine Musiker begrüßt hatte.
Guido hatte zugesehen, wie die außergewöhnliche Prozession durch das Tor davonfuhr. Fünf Kutschen mit auserlesenen livrierten Kutschern und Lakaien bildeten das Gefolge des Kardinals, und keine fünf Schritte vom Haus entfernt, hatte der Kardinal schon die erste Handvoll Goldmünzen in die Menge geworfen.
Tonio kam herein. Er war mit Paolo bereits beim Schneider gewesen und hatte ihn ausstatten lassen, als wäre der Junge dazu bestimmt, den Thron eines kleinen Königreiches zu erben. Er hatte ihm ein schön gearbeitetes Schwert gekauft, etwa ein Dutzend Bücher und eine Violine, da dies Paolos Lieblingsinstrument war und Guido darauf bestand, daß er auch ein Instrument richtig lernte, nur für den Fall.
Verlustängste, Trübsinn. Warum machte sich Guido Gedanken darüber? Nur für den Fall! Kein Unglück würde Paolo heimsuchen, keinen von ihnen würde ein Unglück heimsuchen.
Dennoch fühlte sich Guido in diesem riesigen Zimmer be-drückt und müde. Die Heiligen in ihren goldenen Rahmen vermochten ihm keinen Trost zu spenden.
Tonio zog sich gerade hinter der Tür aus.
Guido sah zu, wie er sich aus seinem weichen, weißen Hemd schälte und seine Hosen zu Boden fallen ließ. Der alte Nino, der Kammerdiener, den die Contessa ihnen mitgeschickt hatte, sammelte die Sachen auf und räumte sie weg.
Tonio stand still da. Er hatte Guido den Rücken zugekehrt, so als genieße er die kühle Luft, die ihn umschmeichelte. Dann zog er einen Morgenmantel aus grüner Seide über. Er band ihn an der Taille locker zusammen, und als er sich umdrehte und langsam aufblickte, strahlte er eine beinahe orientalische Sinnlichkeit aus. Das Haar war ihm ins Gesicht gefallen, der weiche Stoff umhüllte seinen hochgewachsenen und anmutigen Körper, als wäre dies die übliche und schickliche Tracht eines fremden Landes.
»Warum bist du so melancholisch?« fragte er so leise, daß Guido ihn zuerst gar nicht verstand. Die Bedeutung der Worte mußte erst die Schatten im Zimmer
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