Falsetto
seiner Privatkapelle täglich eine Messe, zu der die Mitglieder seines Haushaltes willkommen waren. Der Altar war mit weißen Blumen geschmückt, die Kandelaber, die unter dem riesigen Bild des Gekreuzigten standen, aus dessen Händen und Füßen reichlich glänzend rotes Blut strömte, erleuchteten strahlend die Kapelle. Der helle Kerzenschein tat Tonio in den Augen weh, als er den Raum betrat und auf einem kleinen Stuhl ganz hinten Platz nahm. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Tonio wuß-
te nicht, warum er die Gestalt vorne am Altar beobachtete, die sich jetzt, den goldenen Kelch in der Hand, umdrehte.
Eine Gruppe junger Römer kniete sich hin, um die Kommunion zu empfangen, hinter ihnen die Kleriker, bescheiden und strenger gekleidet. Aber Tonio fühlte sich hier wohl, er lehnte den Kopf an die vergoldete Säule hinter seinem Stuhl und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte der Kardinal gerade seine Hand zum Ausgangssegen erhoben. Sein Gesicht erschien in seiner Glätte alterslos und auf erhebende Weise unschuldig, so als wisse er nichts vom Bösen und hätte auch nie davon gewußt. In seiner Körperhaltung, in jeder seiner Bewegungen lag Überzeugung, und in Tonios Kopf nahm ein Gedanke Gestalt an, der wie ein Puls in seinen Schläfen klopfte. Es war der Gedanke, daß der Kardinal Calvino mehr Grund zu leben hatte als die meisten anderen Menschen: Er glaubte an Gott, er glaubte an sich, er glaubte an das, was er war und war er tat.
Es war Nachmittag, als Tonio, nachdem er mehrere Stunden lang mit Guido und Paolo geübt hatte, die verlassene Fechthalle des Palazzo betrat.
Schon seit Jahren hatte niemand mehr diese Räume benutzt.
Der polierte Fußboden, der durch seine Fußspuren im Staub hindurchschimmerte, hatte für Tonio etwas Vertrautes an sich.
Nachdem er den Degen aus der Scheide gezogen hatte, maß er sich mit einem unsichtbaren Gegner. Er summte dabei vor sich hin, als wäre dieser Kampf von festlicher Musik begleitet und gehöre eigentlich zu einem prächtigen Schaubild auf einer großen Bühne.
Selbst als er langsam müde wurde, trainierte er weiter, bis er den ersten angenehmen Schmerz in seinen Unterschenkeln spürte.
Er hatte bereits eine Stunde geübt, da hörte er, überzeugt davon, daß ihn von der Tür her jemand beobachtete, ganz plötzlich auf.
Er wirbelte herum, das Rapier fest in der Hand.
Da war niemand. Durch das riesige Gebäude hallten zwar die Geräusche geschäftigen Treibens, der an die Fechthalle angrenzende Flur war jedoch leer.
Dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, daß eben jemand gekommen und wieder gegangen war. Nachdem er eilig seinen Rock wieder angezogen und seinen Degen in die Scheide gesteckt hatte, wanderte er ziellos im Palazzo umher, nickte jenen, denen er begegnete, zu, verbeugte sich. Er näherte sich dem riesigen Amtszimmer des Kardinals. Als er jedoch sah, daß es verschlossen war, spazierte er durch ein Zwi-schengeschoß weiter und betrachtete dabei die großen flämischen Tapisserien und die Porträts jener Männer aus dem letzten Jahrhundert, die so gewaltige Perücken getragen hatten. Weißes Haar wallte über ihre Schultern. Ihre fein model-lierten Gesichter wirkten fast, als wären sie lebendig. Plötzlich war unten großer Lärm zu hören. Der Kardinal war gerade angekommen.
Tonio sah zu, wie der Kardinal, umgeben von seinen Pagen und Dienern, die breite weiße Marmortreppe emporstieg. Er trug eine kleine Zopfperücke, die von den Proportionen her harmonisch zu seinem hageren Gesicht paßte, und unterhielt sich freundlich mit seinen Begleitern. Einmal blieb er, die Hand auf das marmorne Geländer gestützt und einen gemurmelten Scherz auf den Lippen, stehen, um Atem zu schöpfen.
Tonio trat nach vorn, ohne es eigentlich zu beabsichtigen.
Vielleicht wollte er ja nur dem Mann zusehen, wie er weiter die Treppe hochstieg.
Als der Kardinal abermals stehenblieb, sein Blick dabei auf Tonio fiel und er ihn dann eine Weile ansah, verbeugte Tonio sich und zog sich zurück.
Er wußte nicht, warum er zugelassen hatte, daß man ihn sah.
Jetzt stand er allein in einem dämmrigen Korridor, an dessen Ende durch ein hohes Fenster die strahlende Sonne zu sehen war, und er schämte sich plötzlich.
Dennoch kostete er die Erinnerung an das leise Lächeln des Kardinals aus, daran, wie der Kardinal seinen Blick auf ihm hatte ruhen lassen, bevor er ihm dann mit großer Herzlichkeit zugenickt hatte. Tonios Herz begann zu hämmern. »Geh
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