Falsetto
an.
Es kam ihm so vor, als würde er von tausenderlei willkürlichen Eindrücken heimgesucht, so als könne sich sein Bewußtsein von Gedanken befreien und nur noch Bilder sehen. Diese Bilder bestanden aus konkreten Objekten, die alle eine bestimmte Bedeutung hatten: Tafelsilber, Kerzen auf einem Altar in einer Kapelle, Brautschleier und Kinderwiegen, das leise Rascheln von Seide, wenn Frauen sich umarmten. Das herrliche Gefüge Venedigs bildete den Hintergrund für diese Vision, und da waren auch vermischte Klänge, das Schmettern von Trompeten und der Geruch des Meeres.
Es dauerte lange Zeit, bis der Maestro sich wieder umdrehte.
Tonios Augen waren tränenfeucht.
»Ich wollte nicht im Zorn gehen«, sagte Tonio leise. »Jetzt sind Sie böse auf mich, dabei liebe ich Sie doch. Ich habe Sie geliebt, seit ich hierherkam.«
»Wie wenig du mich kennst«, sagte der Maestro. »Ich bin niemals böse auf dich gewesen. Nur selten ist mir ein Schüler so ans Herz gewachsen wie du.«
Er ging auf Tonio zu, zögerte aber, ihn zu umarmen. In diesem Augenblick wurde sich Tonio der physischen Gegenwart dieses Mannes, jener Kraft und Rauheit, die einfach zu einem normalen Mann gehörten, deutlich bewußt.
Nicht weniger bewußt war es sich gleichzeitig seiner eigenen Erscheinung, so als spiegelten sich seine unnatürlich zarte Haut und seine Jugend in dem Blick des Mannes wider.
»Ich wollte noch ein paar Worte sagen, bevor wir auseinan-dergehen«, sagte Tonio. »Ich wollte Ihnen danken -«
»Das ist nicht notwendig. Ich werde schon sehr bald nach Rom fahren, um dich auf der Bühne zu sehen.«
»Aber da ist noch etwas«, sagte Tonio, während er den Maestro, der sich zum Gehen gewandt hatte, immer noch ansah.
»Ich wollte Sie um etwas bitten und wünsche mir nun, ich hät-te nicht so lange damit gewartet. Möglicherweise schlagen Sie mir nun das ab, was mir die Welt bedeutet.«
»Sag mir, was du willst«, sagte der Maestro. »Wenn es dir die Welt bedeutet, dann bedeutet das auch Zeit, und ich würde dir alle Zeit der Welt geben.«
»Maestro, ich will Paolo. Ich möchte ihn mit mir nach Rom nehmen.«
Als er dann das Entsetzen, das Mißfallen auf dem Gesicht des Maestro sah, fügte er hastig hinzu: »Maestro, ich werde mich um ihn kümmern, und selbst wenn ich ihn eines Tages zu Ihnen zurückschicken sollte, dann wird sein Aufenthalt bei mir ihn nicht zu einem schlechteren Sänger gemacht haben.
Wenn es etwas gibt, das dem Haß, den ich gegen jene habe, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin, trotzen kann, dann ist das die Liebe, die Liebe zu Guido, zu Paolo und zu Ihnen.«
Paolo saß ganz hinten in der Kapelle, als Tonio ihn fand. Er saß zusammengekauert auf dem Stuhl, das kleine stupsnasige Gesicht war tränenüberströmt. Seine schwarzen Augen blickten unverwandt auf den Tabernakel, und als er sah, daß Tonio noch einmal zurückgekommen war, daß ein Lebewohl nicht gereicht hatte, fühlte er sich verraten.
Er drehte sich weg.
»Paß auf und hör mir zu«, sagte Tonio. Er strich dem Jungen das dunkelbraune Haar aus dem Nacken und legte seine Hand darauf. Der Nacken fühlte sich zerbrechlich an, der ganze Junge fühlte sich zerbrechlich an. Da war er von Liebe zu Paolo so überwältigt, daß er einen Augenblick schwieg. In der warmen Luft hing schwer der Duft von Wachs und Weihrauch.
Es schien, als würde der vergoldete Altar aus den staubigen Lichtbalken, die auf den Marmorboden fielen, alles Sonnenlicht in sich aufsaugen.
»Schließ die Augen und träum ein Weilchen«, flüsterte Tonio.
»Möchtest du in einem prächtigen Palazzowohnen? Möchtest du in eleganten Kutschen fahren und von silbernen Tellern essen? Möchtest du Juwelen an deinen Fingern haben?
Möchtest du Satin und Seide tragen? Möchtest du mit Guido und mit mir leben? Möchtest du mit uns nach Rom kommen?«
Der Junge wandte sich ihm mit einem so wilden Blick zu, daß Tonio der Atem stockte.
»Das geht doch nicht, das ist doch unmöglich!« sagte Paolo mit erstickter Stimme, so als wäre es ein Fluch.
»Doch, es ist möglich«, sagte Tonio. »Alles ist möglich. Wenn du es am wenigsten erwartest, dann ist es möglich, ganz ge-wiß.«
Als sich Vertrauen und Hoffnung in Paolos Gesicht zu zeigen begannen und er seine Arme um Tonio schlang, zog ihn Tonio von seinem Platz hoch.
»Komm«, sagte er. »Wenn es hier etwas gibt, das du gerne mitnehmen möchtest, dann mußt du es jetzt holen.«
Es war Mittag, als die Kutschen endlich losfuhren.
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