Falsetto
hinaus, geh in die Stadt«, flüsterte er bei sich.
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Guido beschloß, in den nächsten paar Wochen die Sache mit der Frauenrolle Tonio gegenüber nicht mehr zu erwähnen.
Als er sein Werk in Angriff nahm, war er jedoch mehr denn je davon überzeugt, daß Tonio in einer solchen Rolle debütieren mußte.
Er besuchte das Teatro Argentina, sprach mit Ruggerio über die anderen Sänger, die er engagieren wollte, vergewisserte sich, daß sich die Bühnenmaschinerie für alle Szenen, die er vielleicht schreiben mochte, in betriebsfähigem Zustand befand, und traf letzte Vereinbarungen über seinen Gewinnanteil beim Verkauf der gedruckten Partitur.
In der Zwischenzeit kaufte Tonio dem kleinen Paolo alles, was ein Junge überhaupt nur tragen konnte, angefangen bei golddurchwirkten Westen bis hin zu Umhängen für Sommer und Winter - obwohl es Sommer war -, Dutzende von Taschentü-
chern, Hemden, verziert mit venezianischer Spitze, die Tonio besonders liebte, Pantoffeln aus Saffianleder.
Guido fand es unmöglich, aber er hatte nicht die Zeit, ihn deswegen zu maßregeln, außerdem war Tonio ein ausgezeichneter Lehrer, der Paolo durch seine Vokalisen ebensogut führte wie durch seine Lateinstunden.
Tonio brachte Paolo auch feines Benehmen bei.
Jeden Morgen frühstückten sie alle drei gemeinsam vor einem der hohen Fenster, dessen granatrote Vorhänge zurückgebunden waren. Guido mußte zugeben, daß er den beiden anderen, die von ihm nicht verlangten, daß er sich am Gespräch beteiligte, gern zuhörte. Er mochte es, wenn sich Leute um ihn herum unterhielten, solange er nicht selbst etwas sagen muß-
te.
Guido mußte am Abend schon genug reden. Er wurde, dank der Contessa, die ihm regelmäßig schrieb, überall empfangen.
In den riesigen Ballsälen, in Kardinalspalästen und den Woh-nungen ausländischer Amateure spürte er, daß die Römer ein weit größeres Selbstbewußtsein besaßen und unendlich kriti-scher waren als die Bewohner anderer Städte.
Warum sollte es aber auch anders sein? Dies hier war Rom, dies war der größte Anziehungspunkt Europas. Hierher kam früher oder später ein jeder, um erhöht oder erniedrigt, aufge-sogen oder aber abgelehnt und davongejagt zu werden.
Ganze Gemeinschaften von Ausländern lebten in dieser Stadt.
Und obwohl Rom in letzter Zeit, anders als gegenwärtig Neapel oder früher Venedig, keine nennenswerte Zahl von Komponisten hervorgebracht hatte, war dies die Stadt, in der jemand seinen guten Ruf begründete oder ihn verlor. Es konnte geschehen, daß ausgezeichnete Sänger, die im Norden und im Süden Lorbeeren eingeheimst hatten, in Rom ruiniert wurden, daß man berühmte Komponisten aus dem Theater jagte.
Der Süden erschien den Römern als lieblich. Wenn dessen Schönheit sie bei einem Besuch auch berauschte, so konnte diese Schönheit sie doch nicht davon abhalten, nach Rom zurückzukehren. Über die Venezianer machten sie sich lustig und behaupteten, was aus Venedig käme, wären alles barca-role, das heißt, jene Art von Liedern, die die Gondolieri zu singen pflegten. Gegenüber jenen, deren Karriere sie zunichte gemacht hatten, empfanden sie kein Mitleid.
Manchmal ärgerte Guido dieser unglaubliche Snobismus, vor allem, da Neapel die ganze Welt mit seinen Talenten versorg-te. Der Venezianer Vivaldi zum Beispiel war ein ausgezeichneter Komponist. Aber Guido hielt seinen Mund. Er war hier, um zu lernen.
Und er war fasziniert.
Tagsüber besuchte er häufig die Kaffeehäuser, sog das Leben auf der geschäftigen Via Veneto und der schmalen Via Condotti in sich auf. Nachdenklich beobachtete er die jungen Kastraten, die kamen und gingen, und von denen einige in luxuriösen Frauenkleidern einherspazierten, andere wie wunderschöne Katzen in der betörenden Strenge klerikalen Schwarzes herumschlichen, wobei sie mit ihren frischen Gesichtern und ihrem herrlichen Haar überall die Blicke auf sich zogen.
Als er die Sommertheater besuchte, in denen komische Opern oder Komödien gespielt wurden, und jene Jungen beobachtete, wie sie auf der Bühne herumstolzierten, begriff er besser als in irgendeiner anderen Stadt, weshalb Eunuchen in Mode gekommen und notwendig geworden waren.
Hier hatte die Kirche ihr Verbot, daß Frauen nicht auf der Büh-ne erscheinen durften, ein Verbot, das einst auf allen Bühnen Europas gegolten hatte, nie gelockert. Das römische Publikum bekam einfach nie ein weibliches Wesen im Rampenlicht zu Gesicht, konnte niemals miterleben, wie eine Frau
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