Falsetto
ging bereits zur Neige. Lange Zeit rühr-te er sich nicht, nicht einmal, um die Arme nach ihr auszu-strecken. Im Dämmerlicht erkannte er langsam, daß ein großer Entwurf die Wand bedeckte, so wie er ihn im Traum gesehen hatte. Er mußte ihn wohl wahrgenommen haben, bevor er eingeschlafen war, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Und auch sie war da. Sie stand davor.
3
Jeden Abend stürzte er, nachdem der letzte Vorhang gefallen war, aus dem Theater, schlüpfte in der Via del Corso aus seiner Kutsche, eilte dann durch ein Gewirr schlammiger Straßen zur Piazzadi Spagna, um sich dort heimlich mit Christina zu treffen, da Raffaeles Bravos ihm immer noch folgten.
Eine alte Dienerin, braun und verschrumpelt, huschte stets herum, staubte bedeutungslose Dinge ab und arrangierte sie neu, während sie Tonio mit ihren kleinen schwarzen Augen geringschätzig musterte. Tonio spürte bei ihrem Anblick sofort Wut in sich aufsteigen, doch dann löste sich stets Christina aus der dämmrigen Umgebung ihres Zimmers, kam auf ihn zu und beruhigte ihn. Sie empfing seine Küsse wie eine Droge.
Die Augen halb geschlossen, ließ sie sich von ihm lange in den Armen halten, bevor sie ihn darum bat, ihn malen zu dürfen.
Er zitterte. Seine Liebe schien ihm eine Qual. Die Aufregung, die er auf der Bühne erlebt hatte, steigerte sich und machte ihn hungrig und verzweifelt.
Dennoch nickte er dann stets mit dem Kopf und ließ sie wieder los. Noch nie in seinem Leben hatte er nach irgend etwas ein solches Verlangen verspürt wie jetzt nach ihr, aber er fügte sich.
Das ganze Atelier war plötzlich von Kerzen erhellt, die hohen Fenster wurden durch das strahlende Licht in Spiegel verwandelt. Sie ließ ihn vor sich Platz nehmen, nahm ihr Papier, befestigte es an einem Brett und begann ihn mit raschen Strichen zu zeichnen. Bald waren ihre Fingerspitzen von der Pastellkreide ganz bunt geworden.
Oft wurde er vom rhythmischen Kratzen der Kreidestifte eingelullt, während ihn ringsum Gesichter ansahen, sinnlich und glü-
hend. Einige davon gehörten Männern und Frauen, die er kannte, andere waren zu mythischer Größe angewachsen, während sich hinter ihnen ein Himmel spannte, an dem gewaltige Wolken hingen, die sich zu bewegen schienen, so echt wirkten sie. Aus einem Rahmen weiter hinten blickte der Kardinal Calvino freundlich auf ihn herab, lebensvoll, ganz er selbst, und mit einer Stärke abgebildet, die Tonio insgeheim quälte.
Ihr Talent stand außer Frage. Ihre Gestalten, kernig, vertraut oder seltsam, umringten ihn mit unglaublicher Vitalität.
Und im Zentrum all dessen arbeitete sie, ihr Haar, das im Licht lebendig zu werden schien, kam ihm immer bizarrer vor. Er fragte sich, ob sie böse sein würde, wenn sie seine Gedanken lesen könnte: daß sie nämlich an diesem Ort so exotisch wie eine weiße Taube wirkte, die irgendwo aus luftiger Höhe her-abgeflogen war, um vollkommen fehlerlos auf dem Cembalo zu spielen. Sie war so sinnlich, das personifizierte Verlangen.
Wie konnte ihr Körper Geist, Talent und eine solche Willens-stärke beherbergen? Es erregte ihn ganz unglaublich.
Während er in eine Art Trancezustand verfiel, stellte er sich vor, wie sie Bücher las, was sie sicherlich fortwährend tat, oder dicke philosophische Abhandlungen schrieb, denn auch dazu hielt er sie für fähig. Dann erwachte er aus diesem köstlich qualvollen Tagtraum und betrachtete ihre wie wild arbei-tenden, von Pastellfarben verkrusteten Hände, sah zu, wie sie Kreidestück um Kreidestück in zwei Teile zerbrach, um in ihrem Arbeitskasten ein kleines Chaos anzurichten. Sie mußte die Freiheit haben, die Farben mit hektischen, kleinen Strichen zu verarbeiten. Ihr Gesicht glühte vor Konzentration, während er wie betäubt zusah und sich dabei nichts anderes wünschte, als mit ihr zu schlafen.
Aber sie hatten noch genug Zeit, um sich zu lieben.
Irgendeine blasse Erinnerung überfiel ihn und gaukelte ihm vor, er befinde sich in einem prächtigen Raum voller Musik.
Plötzlich verstummte die Musik, Angst kroch in ihm hoch. Es schien Vivaldis Musik zu sein, die dahinrasenden Violinen der quattro stagioni. Er konnte die Leere spüren, die in der Luft lag, als das Konzert vorbei war.
Schließlich hatte sie ihr Gemälde vollendet. Zehn ganze Tage war er in ihrem Bann gewesen, hatte seine Zeit nur der Oper und ihr gewidmet und nichts und niemandem sonst.
Es war jetzt kurz vor Morgengrauen. Sie zeigte ihm das Bild, und er gab einen leisen Ausruf
Weitere Kostenlose Bücher