Falsetto
ihn flehentlich ansah, aber er starrte aus den hohen, kahlen Fenstern hinaus über die Dächer in die Ferne und spürte, während ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief, daß er wieder jenen alten Feind, den alten Schrecken entdeckt hatte.
Er sagte zu Christina nur, daß er mit Tonio reden würde, dann hauchte er ihr einen sanften Kuß auf die Wange und erhob sich zum Gehen.
Er ließ seinen Dreispitz liegen und ging die Treppe hinunter, während seine Schritte hohl im Treppenhaus hallten. Dann trat er auf die Piazzadi Spagna hinaus und ging in Richtung Tiber, den Kopf gesenkt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Rom nahm ihn mit seinen verschlungenen Straßen gefangen, es führte ihn von einer kleinen, ungeordneten Piazzazur nächsten. Es führte ihn an riesigen Statuen und glitzernden Brunnen vorbei. Sein Verstand schien angesichts dessen, was er hier wahrnahm, zusammenzuschrumpfen, nur um dann mit der Fülle der Erkenntnis wieder zu wachsen.
Stunden später wanderte er dann über den wunderschönen, vielfarbigen Boden des Petersdoms. Er schlenderte an den majestätischen Papstgräbern vorbei. Skelette grinsten ihn an, so perfekt aus hartem Stein gearbeitet, daß es schien, als hätten sie tatsächlich im Gestein gesteckt und wären nur daraus befreit worden. Die Gläubigen der Welt stießen und schoben ihn hin und her.
Er wußte, was mit Tonio los war. Er hatte es schon gewußt, bevor er zu Christina gegangen war, aber er hatte sicher sein wollen: Tonio wurde langsam in zwei Teile gerissen.
Es war der Kampf der beiden Zwillinge in ihm: der eine, der sich nach dem Leben sehnte, rang mit dem anderen, der nicht ohne die Hoffnung auf Rache leben konnte.
Und jetzt, da Christina an dem hellen Zwilling zerrte, jetzt, da Tonio auf der Bühne solchen Erfolg hatte, strebte der dunkle Zwilling danach, den liebenden zu vernichten, weil er Angst hatte, daß er zu existieren aufhören würde, wenn er es nicht tat.
Guido begriff das nicht vollkommen. Es war kein leichtes Bild für seinen Verstand. Eines begriff er aber sehr wohl: Je mehr das Leben Tonio verwöhnte, um so deutlicher erkannte dieser, daß er nichts davon genießen konnte, bis er nicht die alte Rechnung in Venedig beglichen hatte. Guido stand allein inmitten dieser endlosen Menschenmenge, die durch die größte Kirche der Welt strömte. Er wußte, daß er hilflos war.
»Ohne dich...«, flüsterte er und hörte seine Worte trotz der Vielzahl von Geräuschen um sich herum ganz deutlich. »Ohne dich kann ich nicht leben.« Die einfallenden Sonnenstrahlen ließen seinen Blick verschwimmen. Niemand nahm Notiz von ihm, auch nicht davon, daß er vor sich hinsprach, während er ganz still dastand. »Meine Liebe, mein Leben, meine Stimme«, flüsterte er. »Ohne dich gibt es keinen Wind, der meine Segel blähen könnte. Ohne dich ist da nur Leere.«
Und jene schlimme Ahnung, die ihn überfallen hatte, als sie nach Rom gekommen waren - diese Angst, seinen jungen und treuen Geliebten zu verlieren -, war nichts gegen diese immer schwärzer werdende Dunkelheit.
Es war Karneval. Die Nächte wurden wärmer. Das Publikum war regelrecht verrückt. Die Contessa war nach Rom zurückgekehrt und gab allabendlich einen Ball in ihrer Villa.
Guido gab alle Pläne für die Frühjahrsspielzeit auf, was er den Agenten aus Florenz allerdings nicht mitteilte. Wenn er Tonio nur zu einem weiteren Engagement zwingen könnte, denn Tonio würde niemals sein Wort brechen, und Guido würde dadurch Zeit gewinnen. Zeit, das war alles, woran er denken konnte.
Eines frühen Nachmittags jedoch, als Guido gerade ein neues Duett für Bettichino und Tonio zu Papier brachte, an dem sich die beiden versuchen sollten, falls sie sich inzwischen lang-weilten - und das taten sie -, kam einer der Diener des Kardinals zu ihm, um ihm mitzuteilen, daß ein Signore Giacomo Lisani aus Venedig eingetroffen sei, um Tonio einen Besuch abzustatten.
»Wer ist denn das?« fragte Guido ärgerlich. Tonio war mit Christina im Karnevalstrubel unterwegs.
Sobald Guido den blonden jungen Mann sah, erinnerte er sich an ihn. Vor Jahren war er am Weihnachtsabend nach Neapel gekommen, um Tonio zu besuchen.
Es war Tonios Cousin, der Sohn jener Frau, die Tonio so oft schrieb. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, mehr eine Schatulle, die er Tonio persönlich übergeben wollte.
Als er hörte, daß Tonio nicht da war, war er enttäuscht, aber nachdem Guido sich ihm vorgestellt hatte, erklärte er ihm,
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