Falsetto
er ihr Gesicht in beide Hände nehmen wollte.
Aber er spürte in diesem Augenblick ihre Vitalität ebenso deutlich, wie er sie gespürt hatte, als sie vor wenigen Momenten von ihren Träumen gesprochen hatte. Jetzt fiel ihm auf, daß er stets von Männern und Frauen, einer großen Schar von Leuten umgeben war, die nichts von einer solchen Vitalität, von solchen Träumen wußten. Guido wußte natürlich davon, Bettichino wußte davon, all jene, die für die Musik arbeiteten und lebten, wußten davon. Und sie wußte davon.
Und das unterschied Christina von den Contessas, den Marchesas, von den Grafen, von all den elegant gekleideten und geschmückten Menschen, die das Publikum bildeten, das ihm jeden Abend zujubelte und applaudierte. Er spürte, daß er kurz davor stand, Christina zu verstehen, daß er kurz davor stand, die Dinge, die sie gesagt hatte, die Dinge, die sie tat, die pure Kraft, die in ihr steckte, zu begreifen und auch, warum sie ihm damals stets so einsam vorgekommen war, selbst wenn sie in Sälen voller Menschen tanzte.
Er sah sie an, starrte in ihre sich verdunkelnden und besorgten Augen.
Wie hatte er eigentlich geglaubt, daß sie sein würde, fragte er sich. Irgendeine sinnliche Schönheit, die ihm eine verlorene Stärke zurückgeben würde? Und da stand sie nun. Ihre Hülle, die ihm geistlos, schön und unerreichbar erschienen war, war aufgebrochen, und darunter konnte er sie als vollständige Person erkennen. Als er jetzt in ihrem Gesicht etwas entdeckte, das Kummer zu sein schien - das Kummer sein mußte -, zog er sie an sich und schloß sie in die Arme.
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, er strich ihr das Haar aus den Augen. Er überließ sich ihr, wie sie sich ihm überließ, dann liebten sie sich auf einem Lager aus Heu und schenkten einander ihre Wärme.
Er träumte von Schnee.
Seit Venedig hatte er keinen Schnee mehr gesehen, und auch dort war er nie so dicht gefallen, daß er alle Konturen verwischte. Er träumte, daß er hier in diesem alten Haus erwachte und das Land davon zugedeckt sah, rein und weiß, so weit sein Blick reichte. Die kahlen Pappeln glitzerten vor Eis, Schnee leuchtete in ihren Astgabeln. Weiche Flocken fielen, schwerelos und herrlich, auf die ganze Welt hinab.
Christina war hier bei ihm, aber nicht so nahe, daß er sie be-rühren konnte. Er merkte, daß auf der gegenüberliegenden Wand Hunderte von Gestalten gezeichnet waren, die er vorher nicht gesehen hatte. Erzengel mit riesigen Schwingen und flammenden Schwertern, die die Verdammten vertrieben, Heilige, die voller Qual zum Himmel blickten. Diese mit schwarzer Zeichenkreide gemalten Bilder waren so voller Leben, daß es schien, als wären sie in der Wand gefangen gewesen und Christinas Hand hätte sie nur daraus befreit. Er sah, wie diese Gestalten die Stirn runzelten, sah, wie die Wolken über ihren Köpfen brodelten, während unten Flammen züngelten, um die Sünder zu verzehren.
Es machte ihm angst, dieses Bild, seine ungeheure Größe, und davor ihre kleine Gestalt mit dem Haar, das ihr den Rükken hinabwallte, dem Rock, der sanft schaukelte, als sie hierhin und dorthin trat, die Hand ausgestreckt, um hier und dort noch etwas zu verändern.
Als sie sich jedoch umdrehte, sah er, daß sie ebenfalls von Schnee bedeckt war. Er schwebte durch die offenen Fenster und blieb in hellen Flocken auf ihrem Rock, ihren Brüsten, ihren schmalen Schultern hängen. Ihr Haar war ganz voller Schnee. Schnee trieb sanft herein, um sie beide zu bedecken.
Was bedeutete dieser Schnee, der hier an diesem so unwahr-scheinlichen Ort fiel? Selbst im Traum wollte er verzweifelt die Antwort wissen. Warum dieser außergewöhnliche Frieden, diese strahlende Schönheit? Als er dann wieder hinaus über das wogende Land sah, das unter einem perlmuttschimmern-den Himmel dalag, glaubte er, überhaupt nicht in Italien zu sein, sondern weit weg von all dem, was er liebte, was er fürchtete und was für ihn Bedeutung hatte. Venedig, Carlo, sein Leben, das sich langsam dem Chaos näherte, diese Dinge existierten nicht! Er war lediglich in der weiten Welt und an keinem besonderen Ort. Der Schnee fiel noch dichter, weißer, blendender.
Er spürte, wie sie ihre Arme um ihn legte, als er dort stand. Er spürte, wie die Engel und Heiligen finster von der Wand herun-terblickten. Er liebte sie und wußte, daß er sich nicht mehr vor ihr fürchtete.
Er wachte auf.
Die Sonne schien warm auf sein Gesicht, er lag allein im Stroh. Der Nachmittag
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