Falsetto
Unten auf dem Platz erklang ein eigentümliches Lachen, das die Mauern hinaufhallte und in der Höhe verklang.
»Woran denkst du gerade?« fragte sie.
»Daß ich am Leben bin.« Er seufzte. »Einfach, daß ich am Leben bin und sehr, sehr glücklich.«
»Komm«, sagte sie und erhob sich plötzlich. Sie zog ihn am Arm, um ihn dazu zu bewegen, aus dem warmen Bett aufzustehen, dann warf sie ihm sein Hemd über die Schultern. »Wir haben noch eine Stunde Zeit, bevor du ins Theater mußt.
Wenn wir uns beeilen, dann können wir noch das Rennen sehen.«
»Das ist aber nicht besonders viel Zeit.« Er lächelte und wollte sie zurückhalten.
»Und heute abend«, sagte sie, als sie ihn einmal, zweimal, dreimal küßte, »gehen wir zur Contessa. Und diesmal wirst du mit mir tanzen. Wir beide haben noch nie miteinander getanzt, trotz all der Bälle, auf denen wir uns in Neapel begegnet sind.«
Als er sich nicht rührte, zog sie ihn an, als wäre er ein Kind, und knöpfte mit geschickten Fingern die Perlknöpfe zu.
»Wirst du das violette Kleid anziehen?« flüsterte er ihr fragend ins Ohr. »Wenn du das violette Kleid anziehst, dann tanze ich mit dir.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit war er betrunken. Er wußte, daß Trunkenheit der Feind des Kummers war. Was hatte Catrina gesagt? Daß Carlo wie ein Narr auf der Piazzaherum-wanderte, daß sein einziger Gefährte der Wein war?
Aber das Zimmer war voller Menschen und wirbelnder Farben.
Musik spielte, und er tanzte.
Er tanzte, wie er seit vielen Jahren schon nicht mehr getanzt hatte, all die alten Schritte waren ihm wunderbarerweise wieder eingefallen. Jedesmal, wenn er Christinas entzücktes kleines Gesicht sah, beugte er sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuß zu rauben. Er hatte das Gefühl, daß das hier Neapel war und er nun auf einem jener Bälle tanzte, wo er sich so nach ihr gesehnt hatte.
Dann wieder war es Venedig, und er befand sich in Catrinas hübschem Haus, oder es war jener längst vergangene Sommer an der Brenta.
Mit einem Mal schien sich sein gesamtes Leben zum Kreis zu schließen. Hier war er nun, tanzte und tanzte, drehte sich und verbeugte sich im lebhaften Takt des Menuetts, und all jene, die er liebte, waren um ihn.
Guido war da, und Marcello, der hübsche junge Eunuch aus Palermo, der Guidos Geliebter war, und die Contessa, und Bettichino mit seinen Bewunderern.
Als Tonio den Raum betreten hatte, schienen sich alle nach ihm umzudrehen. Er konnte die Gäste flüstern hören: Tonio, da ist Tonio.
Musik erfüllte den Raum, und als sich der Tanz auflöste, hatte er sofort ein Glas Weißwein in der Hand, gleich darauf war es auch schon leer.
Es schien, als wollte Christina jetzt mit ihm die Quadrille tanzen, doch er küßte ihr sanft die Hand und erklärte, er würde ihr zusehen.
Er war sich nicht ganz sicher, wann er gespürt hatte, daß es Ärger geben würde, auch nicht, wann er Guido auf sich zukommen gesehen hatte.
Ihm war, als hätte er, schon seit er den Saal betreten hatte, gespürt, daß mit Guido irgend etwas nicht stimmte. Also umarmte er Guido leicht und versuchte, ihn aufzuheitern und zum Lächeln zu bringen, auch wenn dieser das absolut nicht wollte.
Guidos Gesicht blieb besorgt, und als er Tonio zuflüsterte, er solle der Contessa persönlich erklären, warum sie nicht nach Florenz gingen, klang das sehr dringend.
Sie würden nicht nach Florenz gehen?
Wann hatten sie diese Entscheidung getroffen? Über die Dinge um ihn herum schien sich plötzlich eine tiefe Dunkelheit zu senken. Eine Weile war es ihm nicht mehr möglich, so zu tun, als wäre dies hier Neapel oder Venedig. Er war in Rom, die Opernspielzeit war fast vorbei, seine Mutter war tot, man hatte sie übers Meer gefahren, um sie zu begraben, und Carlo wanderte auf der Piazza San Marco umher und wartete auf ihn.
Guidos Gesicht war dunkel und geschwollen. Er flüsterte hastig irgend etwas, ja, sag der Contessa, sag ihr, warum wir nicht nach Florenz gehen können.
In diesem Augenblick empfand Tonio unwillkürlich eine düstere Heiterkeit. »Wir gehen nicht, wir gehen nicht...«, flüsterte er.
Guido zog ihn jetzt einen schwach erleuchteten Korridor entlang, vorbei an den frisch gemalten Wänden, den Wandbe-spannungen aus purpurnem Brokat mit goldenen Bourbonenlilien auf eine Flügeltür zu, die sich öffnete.
Guidos Stimme klang bedrohlich, er machte ihm schreckliche, schreckliche Vorwürfe.
»Und was sollen wir jetzt machen?« wollte Guido wissen.
»Gut, wenn wir
Weitere Kostenlose Bücher