Falsetto
worum es ging. Vor zwei Wochen war Tonios Mutter nach langer Krankheit gestorben. »Sie verstehen«, sagte er, »daß ich ihm das persönlich mitteilen muß.«
Wie sich herausstellte, war Tonio nirgends zu finden. Guido war das ganz recht, denn er wollte nicht, daß man ihn noch vor der Abendvorstellung darüber informierte.
Also war es nach Mitternacht, als der junge Venezianer, der mit der Schatulle zum Hause des Kardinals zurückgekehrt war, ihm die Nachricht so schonend überbrachte, wie er konnte.
Der Ausdruck, der auf Tonios Gesicht erschien, war etwas, das Guido niemals in seinem Leben wiedersehen wollte.
Nachdem Tonio sich von seinem Cousin verabschiedet hatte und den kleinen Koffer mit in sein Zimmer genommen, ihn ge-
öffnet und hineingestarrt hatte, sagte er zu Guido einfach, daß er an die frische Luft gehen wollte.
»Laß mich mitkommen oder laß mich dich zu Christina bringen«, sagte Guido. »Versuche nicht, diesen Kummer ohne uns zu tragen.«
Lange Zeit sah Tonio ihn an, als ob er sich über Guidos Worte wundern würde. Guido spürte, wie all das, was ihn von Tonio trennte und stets trennen würde, auf ihm lastete. Tonios dunkles Leben, dieses geheime Leben, das mit Venedig und jenen Menschen, die er dort gekannt und geliebt hatte, zusammenhing, war etwas, zu dem er niemandem Zutritt gewährte.
»Bitte«, sagte Guido. Sein Mund war trocken, seine Hände zitterten.
»Guido, wenn du mich liebst«, sagte Tonio, »dann laß mich jetzt allein.« Selbst in diesen Worten lag die für ihn typische Sanftheit, diese halbe Lächeln. Er klopfte Guido tröstend auf den Rücken, und Guido sah stumm zu, wie Tonio ging.
5
Der römische Karneval war im Gange und mit ihm die letzten und wildesten Nächte der Opernsaison. Von Morgengrauen bis zur Dunkelheit wimmelte es auf der Via del Corso von fröhlichen, kostümierten Leuten. Zu beiden Seiten dieser Haupt-straße waren Gerüste aufgebaut, auf denen sich maskierte Zuschauer drängten. Die üppig dekorierten Triumphwagen der großen Familien rollten langsam durch die Straße, beladen mit phantastisch kostümierten Indianern, Sultanen, Göttern und Göttinnen. Der große Festwagen der Lamberti hatte die schaumgeborene Venus zum Thema, und die kleine Contessa selbst stand, herausgeputzt mit Girlanden und Blumen, in einer Muschel aus Papiermache. Dahinter kamen Kutschen, deren maskierte Insassen Zuckermandeln in die Menge warfen, während überall Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleidet vorbeizogen und man ringsum Prinzen, Seeleute oder die Figuren der Commedia sehen konnte. Dieselben alten Themen, derselbe Wahnsinn...
Tonio, der maskiert war und einen langen schwarzen tabarro über seiner Kleidung trug, zog Christina neben sich her. Sie hatte ihr Haar wie ein Mann zurückgebunden und steckte in einer Offiziersuniform, die bei ihrer schmalen Gestalt sehr adrett wirkte. Sie liefen hierhin und dorthin, wobei Tonio ab und zu seinen Arm hob, um sie mit dem weiten tabarro vor einem Bombardement von Süßigkeiten abzuschirmen. Sie sahen immer wieder den wilden Späßen und Possen einer Pulcinella zu oder entflohen einen Augenblick dem Getümmel, um sich zu küssen, Atem zu schöpfen, sich im Eingang einer Kirche aneinanderzuklammern.
Als der Tag zum Spätnachmittag wurde, wurde die Straße jedoch für den letzten Höhepunkt, das Rennen, freigemacht.
Fünfzehn Pferde wurden zuerst von der Piazzadel Popolo zur PiazzaVenezia und wieder zurückgeführt, bevor man sie dann auf ersterer losließ, damit sie ungezügelt und frei zurückga-loppieren konnten. Es war ein verwegenes Unternehmen voll prickelnder Gefahr, wenn die Pferde mit trommelnden Hufen dahinjagten, dabei ein Tier auch einmal in die Menge ausbrach, bis sie schließlich auf die Piazza Venezia einga-loppierten, wo dann der Gewinner bekanntgegeben wurde.
Als dann schließlich die Sonne unterging, wurden die Masken abgenommen. Die Straßen leerten sich, aber die Leute vergnügten sich weiter - sie gingen auf einen der Bälle, die überall in der Stadt gegeben wurden, oder gaben sich einem noch größeren Genuß hin: dem Theater.
Das Opernpublikum war wild wie nie. Obwohl jetzt keine Masken mehr getragen wurden, herrschten im Zuschauerraum immer noch die Kostüme vor, vor allem die dunklen tabarri, die dem Träger Anonymität verliehen. Die Frauen, die in ihren Militäruniformen einen charmanten Anblick boten, genossen die volle Freiheit der Hosen, während die gegnerischen Lager von Bettichino
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