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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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lehnte und dabei das Bild des Sterbezimmers, das er in diesen letzten Wochen nicht einen einzigen Augenblick lang losgeworden war, aus seiner Erinnerung zu verdrängen versuchte, sah er, wie sich über die Piazza die sehr wirkliche Gestalt einer Frau in Trauerkleidung auf ihn zubewegte. In diesen letzten trunkenen und bitteren Tagen hatte er sie ständig in den calli, auf der riva und wieder in den calli gesehen.
    Er kniff die Augen zusammen, legte den Kopf schräg.
    Sie glitt in ihren Röcken so langsam über den von schimmerndem Wasser bedeckten Platz, daß sie sich nicht durch menschliche Kraft, sondern durch die Kraft seines fiebrigen und kummererfüllten Verstandes fortzubewegen schien.
    »Und du gehörst dazu, meine Liebste«, flüsterte er und genoß es, seine Stimme in seinem Kopf hallen zu hören. Niemand nahm auch nur die leiseste Notiz von ihm, auch nicht von der offenen Flasche in seiner Hand. »Weißt du das? Du gehörst dazu, du Namen- und Gesichtslose, die du dennoch schön bist. Und so, als wäre diese Schönheit nicht genug, kommst du aus deren Zentrum, schwarz gekleidet, schwarz wie der Tod. Stets bewegst du dich auf mich zu, so als wären wir ein Liebespaar, du und ich, der Tod...«
    Die Piazza kippte weg, nahm dann wieder ihre normale Lage ein.
    Dies hier war der Höhepunkt irgendeines Wunders, das der Weinbrand und sein Leiden bewirkt hatten: Dies war jener vollkommene Augenblick, wenn alles erträglich wurde: Ja, das ist Tonios Tod wert, denn ich habe keine Wahl, ich kann nicht anders handeln! Mein Singvogel, mein Sänger, mein kastrierter Sohn! Mein Arm reicht bis nach Rom und packt dich an der Kehle, um dich für immer zum Schweigen zu bringen, und dann und dann, und dann kann ich frei atmen!
    Unter den Arkaden schlichen seine Bravos herum, blieben stets in seiner Nähe.
    Er wollte wieder lächeln, wollte dieses Lächeln auf seinem Gesicht spüren. Die Piazza , die so hell strahlte, sollte in einem formlosen grellen Blitz explodieren.
    Aber da war noch ein anderes Gefühl, und es machte ihm angst. Da war etwas, das dieses köstliche Vergnügen verdarb und einen Geschmack hatte wie... was war es? Etwas wie ein verdorrter Schrei in einem offenen Mund.
    Er trank vom Weinbrand. War es die Frau, die Art, wie sich ihre Röcke bewegten, wie ihr Schleier hinter ihr herwehte, so daß er darunter die Form ihres Gesichts sehen konnte? War es das, was in ihm eine leise Panik hervorrief, so daß er schnell noch einen Schluck nehmen mußte?
    Sie kam auf ihn zu, wie sie vorhin auf der Piazzetta auf ihn zugekommen war, wie sie sich ihm vorhin auf der riva genä-
    hert hatte.
    Wer war sie, irgendeine Kurtisane in fastenzeitlichem Schwarz? Sie war ständig da. Ja, sie verfolgte ihn, daran bestand kein Zweifel. Und wo waren ihre Damen, ihre Diener?
    Hielten sie sich irgendwo im Hintergrund, so wie seine Männer?
    Er stellte sich das einen Augenblick lang vor. Es gefiel ihm. Ja, sie verfolgte ihn. Sie hatte gewiß sein Lächeln gesehen, sie sah es auch jetzt.

    »Ich will es, ich will alles!« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich will das hier und nicht dieses Leiden. Wenn nur endlich, endlich jemand käme und mir sagte, daß er tot ist!«
    Er riß die Augen auf. Sie war überhaupt kein menschliches Wesen, sondern irgendein Gespenst, das geschickt worden war, um ihn heimzusuchen und zu trösten. Verschwommen sah er das Oval ihres weißen Gesichts, sah, wie sie ihre blei-chen Hände unter ihrem wehenden Schleier bewegte.
    Plötzlich drehte sie sich um, hörte dabei aber nicht auf, sich voranzubewegen. Nein! Es war höchst bemerkenswert, er neigte den Kopf leicht nach vorn, hatte die Augen wieder zusammengekniffen, um besser sehen zu können.
    Sie ging rückwärts, ließ den Wind die vielen Schichten ihres hauchdünnen Schleiers vor ihrem Gesicht entwirren und ihre Röcke vor sich herblasen. Sie ging auf ihren Absätzen rück-wärts, ohne dabei aus dem Tritt zu kommen, tat genau das, was ein Mann bei diesem Wind tun würde, um seinen verhed-derten Mantel wieder in Ordnung zu bekommen. Dann drehte sie sich wieder nach vorn.
    Er lachte leise, zurückhaltend. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine Frau so etwas tun sehen.
    Als sie sich umgedreht hatte, war ihre Kleidung wieder glatt.
    So kam sie mit denselben gespenstischen, schwerelosen Bewegungen weiter auf ihn zu, und er verspürte einen heftigen Schmerz in der Seite.
    Er stieß zischend die Luft aus.
    Blinde, närrische Kurtisane, Witwe,

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