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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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davon überzeugen, daß du tatsächlich die Stärke besitzt, ihm zu vergeben.«
    »Aber besitze ich denn diese Stärke?« wollte Tonio wissen.
    »Wenn du merkst, wie bedeutend diese Stärke ist, dann wirst du sie besitzen. Du wirst der Mann sein, der du sein willst. Und dein Vater wird dies auf ewig bezeugen.«
    Guido schlief noch nicht, als Tonio ins Zimmer trat. Er saß im Dunkeln an seinem Schreibtisch. Tonio konnte hören, wie Guido seinen Becher hob, daraus trank und ihn wieder fast geräuschlos auf die hölzerne Schreibtischplatte absetzte.
    Paolo lag zusammengerollt mitten auf Guidos Bett. Er war noch angezogen, aber sein Haar war aufgelöst. Im Mondlicht war zu erkennen, daß sein Gesicht tränenüberströmt war. Er schien zu frieren, denn er hatte die Arme eng um sich geschlungen.
    Tonio nahm die zusammengelegte Bettdecke und deckte ihn damit zu. Er zog sie ihm bis unters Kinn und beugte sich dann über ihn, um ihm einen Kuß zu geben.
    »Weinst du auch um mich?« Er drehte sich zu Guido um.
    »Vielleicht«, antwortete Guido. »Vielleicht um dich, um mich, um Paolo. Und um Christina auch.«
    Tonio näherte sich dem Schreibtisch. Er blieb davor stehen und wartete, bis Guidos Gesicht im Dunkeln langsam zu erkennen war.
    »Kannst du bis Ostern eine Oper fertigstellen?« fragte er.
    Guido nickte zögernd.
    »Und der Impresario aus Florenz, ist der immer noch da?«
    Wieder nickte Guido zögernd.
    »Dann geh zum Impresario und triff die entsprechenden Vorbereitungen. Miete eine Kutsche, die groß genug für uns alle ist -Christina, Paolo, Signora Bianchi -, fahr nach Florenz und such uns dort ein Haus.
    Denn ich verspreche dir, daß ich bis spätestens zum Ostersonntag, bevor das Theater seine Tore öffnet, wieder bei euch sein werde.«

    SIEBTER TEIL

    1

    Selbst hinter diesem wirbelnden Regenschleier war die Stadt zu schön, um wirklich zu sein. Sie war vielmehr ein Traum von einer Stadt, der jeder Vernunft widersprach. Die alten Paläste erhoben sich aus dem aufgewühlten, bleigrauen Wasser, um zu einer großartigen Fata Morgana zu verschmelzen. Sonnenlicht flutete durch die zerrissenen Wolken, die an den Rändern in hellem Silber schimmerten, die Masten der Schiffe ragten zwischen den dahinsegelnden Möwen auf, Fahnen knatterten im Wind, bildeten bunte Farbflecken vor dem schimmernden Hintergrund des Himmels.
    Der Wind peitschte die Wasserfläche, in die sich die Piazzetta verwandelt hatte, und jenseits davon ertönten die Glocken des Campanile, vermischten sich mit dem Heulen des Windes, so daß der Klang ein Traum seiner selbst zu sein schien, so wie das Geschrei der Möwen.
    Unter den Säulengängen des Dogenpalastes erschienen nun die Mitglieder des Durchlauchtigsten Senats. Scharlachrote Roben schleiften auf dem feuchten Boden, weiße Perücken wurden vom Wind zerzaust, während sich dieser ehrwürdige Zug zum Kai begab und ein Senatsmitglied nach dem anderen in jene hefschwarzen Galaboote einstieg, um dann den Canal Grande hinaufzufahren, jene Prachtstraße voll ungebroche-nem Glanz.
    Oh, würde diese Stadt nie aufhören, ihn zu erstaunen, sein Herz und seinen Verstand zu verwüsten? Oder war dies nur deshalb so, weil er in fünfzehn Jahren bitteren Exils in Konstantinopel so danach gehungert hatte, daß er niemals genug davon bekommen konnte? Stets verlockend, stets geheimnisvoll und stets gnadenlos, das war sie, seine Stadt, Venedig, der Traum, der immer und immer wieder Gestalt wurde.
    Carlo hob die Flasche mit Weinbrand an seine Lippen. Er spürte, wie die Flüssigkeit in seinem Hals brannte, wie sein Blick zuerst verschwamm, dann wieder klar wurde. Der Wind biß in seinen Augen.

    Er drehte sich um, verlor dabei fast das Gleichgewicht. Er sah seine getreuen Männer, seine Bravos, die sich wie Schatten am Rande der Piazzaaufhielten. Gerade kamen sie ein klein wenig näher, unsicher, ob sie ihm helfen sollten, aber bereit, sofort zu ihm zu eilen, sollte er hinstürzen.
    Carlo lächelte. Er hielt die Flasche an ihrem Hals. Wieder nahm er einen langen Zug. Die Menschenmenge vor ihm wurde zu einer trägen Masse aus Farben, die sich im Wasser spiegelte und schließlich ebenso unkörperlich wirkte wie der Regen selbst, der sich in geräuschlosen Nebel aufgelöst hatte.
    »Für dich«, flüsterte er der Leere zu, dem Himmel, dieser Stadt, die ein Wunder an Stabilität und Vergänglichkeit zugleich war, »für dich erbringe ich jedes Opfer, opfere dir mein Blut, meinen Schweiß, mein Gewissen.« Er schloß

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