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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war keinerlei kokette Empörung, auch kein vorgetäuschter Respekt. Sie sah ihn einfach nur an, so als wäre sie von ihm vage fasziniert. Sie musterte ihn, wie man vielleicht etwas Unbelebtes musterte. In dieser abgedunkelten Kabine erschien sie ihm von so vollkommener Schönheit wie kein anderes Wesen, das er je gesehen hatte. Es war nicht möglich, daß jemand so schön war. Er suchte nach den Grenzen dieser Schönheit, der unvermeidlichen Enttäuschung, den unvermeidlichen Mängeln. Sie kam ihm jedoch so reizend vor, wenigstens in diesem Augenblick, daß er das Gefühl hatte, diese Schönheit schon immer gekannt zu haben. In irgendeinem geheimen Winkel seiner Seele mußte er dem Gott der Liebe lüstern und lasterhaft zugeflüstert haben: »Gib mir das, ganz genau das, nur das.« Und hier war sie nun, und ihm war in diesem Gesicht nichts fremd. Ihre schwarzen Augen mit den aufwärts gebogenen Wimpern, ihre Haut, die so straff über den Wangenknochen lag, und dieser breite, sinnliche und köstliche Mund.
    Er berührte ihre Haut, ah! Er zog seine Hand zurück, dann be-rührte er ihre schwarzen Augenbrauen, die Wangenknochen und den Mund.
    »Du bist spröde, nicht wahr?« Er hauchte diese Worte. »Jetzt möchte ich, daß du mir einen richtigen Kuß gibst!« Es klang, als würde sich ihm ein Stöhnen entringen, dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände, drückte sie nach hinten und holte sich diesen Kuß, saugte dabei fest an ihrem Mund, ließ ihn los, saugte dann wieder daran.
    Sie schien zu zögern. Eine Sekunde lang hatte es den Anschein, als wäre sie erstarrt, dann gab sie sich ihm mit einer Gelassenheit hin, die ihn erstaunte. Ihre Lippen wurden weich, ihr ganzer Körper wurde weich. Trotz seines betrunkenen Zustandes spürte er, wie sich zwischen seinen Beinen etwas zu regen begann.
    Er lachte.
    Er sank auf das Sitzkissen zurück. Licht fiel farblos und trüb durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Ihr Gesicht schien fast zu weiß, um noch menschlich zu sein. Aber sie war menschlich, das war sie durchaus, er konnte es schmecken.
    »Ihr Preis, Signora.« Er wandte sich ihr zu, kam so nahe, daß ihr weißes, gepudertes Haar an seinem Gesicht kitzelte. Als sie den Blick senkte, spürte er, wie ihre Wimpern seine Wangen streiften. »Was ist Ihr Preis, was wollen Sie haben?«
    »Was wollen Sie denn haben?« kam die tiefe, heisere Stimme.
    Sie hatte ein Timbre, das bei ihm einen kleinen Krampf in der Kehle auslöste.
    »Sie wissen, was ich meine, meine Liebe ...«, schnurrte er.
    Wieviel willst du dafür haben, daß du mir das Vergnügen ge-währst, dir die Kleider vom Leib reißen zu dürfen. »Solche Schönheit hat ihren Preis«, sagte er und streifte ihre Wangen mit seinen Lippen.
    Sie jedoch hob ihre Hand. »Sie verschwenden, was sie genie-
    ßen könnten«, antwortete sie. »Und für Sie, da gibt es keinen Preis.«

    Sie befanden sich in einem Zimmer.
    Sie waren viele Treppen hinaufgestiegen, hoch und höher, auf feuchten Stufen. Ihm gefiel dieses heruntergekommene Ge-bäude nicht. Überall waren Ratten, er konnte sie hören, aber sie hatte ihm solch köstliche Küsse gegeben, und diese Haut, diese Haut, dafür hätte er jemanden umbringen können.
    Und jetzt befanden sie sich in einem Zimmer.
    Sie hatte ihn gedrängt, etwas zu essen. Nach dem ganzen Weinbrand, den er getrunken hatte, schmeckte der Wein wie Wasser.
    Er kannte dieses Haus nicht.
    Das Viertel jedoch kannte er, er kannte all die Häuser ringsum, wußte, daß sich in ihnen so manches warme Schlafzimmer befand, das dieser oder jener Kurtisane gehörte, die er ganz gern mochte. Aber dieses Haus ...
    Der Kerzenschein schmerzte in seinen Augen. Der Tisch war mit Speisen beladen, die kalt geworden waren. Jenseits davon ragte schemenhaft der Rahmen eines Bettes auf, das, wie es schien, nachlässig mit golddurchwebten Vorhängen drapiert war. Das riesige Kaminfeuer hatte den Raum viel zu stark auf-geheizt.
    »Zu warm«, sagte er. Sie hatte alle Fensterläden verriegelt.
    Irgend etwas störte ihn, vielleicht waren es auch mehrere Dinge, daß unter der Decke so viele Spinnweben hingen vielleicht und daß es hier so feucht war. Es roch nach Verfall.
    Doch da waren mittendrin all diese Reichtümer, die Pokale, der silberne Teller. Das Ganze erinnerte ihn irgendwie an eine Bühnenausstattung.
    Aber irgend etwas störte ihn, irgend etwas ganz Bestimmtes.
    Was war es nur? Es waren... ihre Hände.
    »Du liebe Güte, die sind ja riesig...«, flüsterte er. Als er

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