Falsetto
begleiteten, bis er die Stadt verließ.
»Man sagt, er würde sich, falls nötig, mit jedem anlegen, und wenn die Primadonna hübsch ist, dann wird er sie nicht eine Sekunde in Ruhe lassen. Alessandro, stimmt das denn?«
»Signora, da wissen Sie viel mehr als ich«, meinte Alessandro lachend.
»Nun, ich gebe ihm fünf Minuten«, sagte Vincenzo, »und wenn er dann nicht mein Herz berührt oder mein Ohr fasziniert hat, dann gehe ich zum San Moise.«
»Mach dich nicht lächerlich, heute abend sind alle hier«, sagte Catrina. »Dies hier ist der richtige Ort, abgesehen davon regnet es.«
Tonio drehte seinen Stuhl herum, ließ sich rittlings darauf nieder und blickte zur Bühne, wo der Vorhang noch herabgelas-sen war. Er konnte seine Mutter lachen hören. Der alte Senator hatte vorgeschlagen, sie sollten alle nach Hause gehen und sich von Marianna und Tonio etwas vorsingen lassen.
Dann könnte er endlich zu Abend essen. »Sie werden bald für mich singen, meine Liebe, nicht wahr?«
»Manchmal habe ich das Gefühl, mit einem Magen verheiratet zu sein«, sagte Catrina.
Inzwischen war unten im hinteren Teil des Hauses eine Schlä-
gerei ausgebrochen. Man hörte lautes Gebrüll und Gestampfe, dann war rasch wieder Ordnung hergestellt. Hübsche Mädchen gingen zwischen den Stuhlreihen hindurch und verkauf-ten Wein und andere Erfrischungen.
Alessandro stand hinter Tonio an der Logenwand wie ein gro-
ßer Schatten.
In diesem Augenblick erschienen die Musiker, ließen sich auf ihren gepolsterten Stühlen nieder, hantierten großartig mit Lampen herum und raschelten mit Papier. Als der junge unbekannte Komponist der Oper nach vorn trat, konnte man die Jubelrufe seiner Anhänger und hastiges Klatschen hören.
Es schien, als würden die Lichter abgeblendet, aber nicht sehr stark. Tonio lehnte sich, das Kinn in die Hände gestützt, in seinem Stuhl zurück. Dem Komponisten paßte seine Perücke nicht, ebensowenig sein schwerer Brokatrock, außerdem war er elendiglich nervös.
Alessandro gab ein mißbilligendes Geräusch von sich.
Der Komponist setzte sich unbeholfen ans Cembalo. Die Musiker hoben ihre Bögen, und plötzlich war das Haus von festlicher Musik erfüllt.
Sie war wunderschön, leicht, festlich und ohne Tragik oder Dü-
sternis. Tonio war sofort davon verzaubert. Er beugte sich vor, da die Leute hinter ihm schwatzten und lachten. Gerade dort, wo der Balkon einen Bogen machte, saß die Familie Lemmo bereits beim Essen. Auf den silbernen Tellern vor ihnen dampften die Speisen. Ein wütender Engländer bat vergeblich um Ruhe.
Als sich jedoch der Vorhang hob, ertönten überall Ooohs und Ahhhs. Goldene Porticos und Bögen ragten vor der unendlichen Weite eines blauen Himmels auf, an dem zauberhaft die Sterne blinkten. Wolken zogen über die Sterne, und die Musik, die sich in der plötzlichen Stille erhob, schien bis zum Dach hinauf zu schweben. Der Komponist hämmerte auf das Cembalo ein, seine gepuderten Locken hüpften dabei im Takt auf und ab, während auf der Bühne prächtig gekleidete Frauen und Männer erschienen, um sich an dem steifen, aber not-wendigen Rezitativ zu beteiligen, mit dem die allzu vertraute und widersinnige Geschichte der Oper begann. Jemand war verkleidet, jemand anderes wurde entführt und vergewaltigt.
Jemand würde den Verstand verlieren. Es würde ein Kampf mit einem Bären und einem Seeungeheuer stattfinden, bevor die Heldin ihren Weg zu ihrem Ehemann zurückfand, der sie für tot gehalten hatte, und die Götter würden irgendeinen Zwil-lingsbruder segnen, weil er den Feind bezwungen hatte.
Tonio würde das Libretto später auswendig lernen. Im Moment war es ihm egal. Was ihn aber wahnsinnig machte, war, daß seine Mutter ständig lachte und daß die Mitglieder der Familie Lemmo, denen eben ein köstlicher gegrillter Fisch serviert worden war, plötzlich begeistert aufschrien.
»Verzeihung.« Er schob sich an Alessandro vorbei.
»Aber wohin gehen Sie?« Alessandros große Hand schloß sich leicht und warm um Tonios Handgelenk.
»Nach unten. Ich muß Caffarelli hören. Bleiben Sie bei meiner Mutter, lassen Sie sie nicht aus den Augen.«
»Aber, Exzellenz ...«
»Tonio.« Tonio lächelte. »Alessandro, ich bitte Sie, ich schwö-
re bei meiner Ehre, ich werde nur ins Parterre gehen, Sie können mich von hier aus sehen. Ich muß Caffarelli hören!«
Es waren nicht alle Stühle besetzt. Während der Vorstellung würden noch viele Gondolieri kommen, die freien Eintritt
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