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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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flüsterte Tonio: »Es ist nicht meine Schuld!«
    »Dann unterwirf dich mir!« antwortete Carlo.
    Also war es soweit gekommen.

    Diesen Moment hatte er tagein, tagaus gefürchtet. Er hätte sich zum Gehen erhoben, aber die Hand seines Bruders hatte sich auf die seine gelegt. Er kam sich vor, als hätte man ihn an den Tisch gefesselt. Unter seiner Kleidung brach ihm der Schweiß aus, aber das Zimmer kam ihm plötzlich unendlich kalt vor. Er starrte ins Kerzenlicht, ließ sich davon blenden. Er wußte, daß er nichts hätte tun können, um das hier zu verhindern.
    »Hast du denn gar kein Verlangen, dir meine Version der Geschichte anzuhören?« flüsterte Carlo. »Kinder sind doch neugierig. Besitzt du denn keine natürliche Neugierde?« Sein Gesicht wurde rot vor Zorn, dennoch verweilte dieses Lächeln auf seinen Lippen. Seine Stimme erstarb bei der letzten Silbe, so als mache ihm ihre Lautstärke Angst.
    »Signore, ich bin es nicht, mit dem Sie Streit haben. Beschwe-ren Sie sich nicht bei mir.«
    »Oh, kleiner Bruder, du versetzt mich in Erstaunen. Du läßt dich nicht einschüchtern, oder? Ich denke, du besitzt eine ebensolche eiserne Härte wie dein Vater, und die Ungeduld, die deiner Mutter zu eigen ist. Aber du wirst mir zuhören.«
    »Signore, Sie irren sich. Ich werde Ihnen nicht zuhören. Sie müssen Ihre Gründe jenen vorlegen, die eingesetzt wurden, über uns beide, über unser Vermögen und über unsere Ent-scheidungen zu bestimmen.«
    Tonio empfand eine übermächtige Abscheu vor seinem Bruder und zog seine Hand unter der Carlos hervor.
    »Was wollen Sie von mir, Signore?« fragte Tonio. Er hatte sich aufgerichtet und atmete jetzt langsam ein. »Erklären Sie mir, Signore, was soll ich tun?«
    »Unterwirf dich mir, das habe ich dir schon gesagt!« Carlo wurde wieder lauter. »Siehst du denn nicht, was er mir angetan hat? Er hat mich beraubt, das ist es, was er getan hat, und jetzt trachtet er danach, mich abermals zu berauben. Aber ich sage dir, das wird nicht geschehen!«
    »Und wie wollen Sie das verhindern?« wollte Tonio wissen. Er spürte, wie er zitterte, aber jetzt hatte ihn jene Heiterkeit er-faßt, die jede Furchtsamkeit überwindet. »Soll ich Hinderungs-gründe erfinden, Lügen! Mich dem Willen meines Vaters widersetzen, weil Sie mich darum gebeten haben! Signore, ich besitze vielleicht keine eiserne Härte, das weiß ich nicht, aber es fließt das Blut der Treschi in meinen Adern, und Sie haben mich so falsch eingeschätzt, daß ich jetzt gar nicht weiß, wie ich Ihnen diesen Irrtum klarmachen soll.«
    »Ach, dann bist du also gar kein Kind, oder?«
    »Doch, das bin ich, und das ist auch der Grund dafür, weshalb ich das hier jetzt erdulden muß«, antwortete Tonio. »Aber Sie, Signore, Sie sind ein Mann, und Sie wissen sicherlich, daß ich nicht der Richter bin, vor dem Sie Ihre Berufung einlegen sollten. Ich habe das Urteil nicht verkündet.«
    »Ach, Urteil, ja, Urteil!« Carlos Stimme schwankte. »Wie gut du deine Worte wählst, wie stolz dein Vater auf dich gewesen wäre, auf dich, der du jung und klug und, ja, voller Mut bist...«
    »Mut!« sagte Tonio jetzt leiser. »Signore, Sie drängen mich zu unbesonnenen Worten. Ich will nicht mit Ihnen streiten. Lassen Sie mich gehen, dies hier ist die Hölle für mich, Bruder gegen Bruder!«
    »Ja, Bruder gegen Bruder«, antwortete Carlo, »und was ist mit dem Rest dieses Hauses? Was ist mit deiner Mutter? Wo steht sie in der ganzen Sache?« flüsterte er und kam so nahe an Tonio heran, daß dieser zurückwich, dabei aber immer noch unfähig war, den Blick abzuwenden. »Sag es mir«, forderte Carlo. »Was ist mit deiner Mutter?«
    Tonio war zu erstaunt, um zu antworten.
    Er saß da, an die Rückenlehne seines Sessels gepreßt, und starrte seinen Doppelgänger an. Jenes verschwommene Ge-fühl der Abscheu kehrte zurück. »Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Signore.«
    »Du verstehst das nicht? Gebrauche deinen Verstand, er ist scharf genug. Deine Hauslehrer führst du ja auch an der Nase herum. Sag mir, ist sie zufrieden damit, als trauernde Witwe hier im Hause ihres Sohnes allein zu leben?«
    »Was bleibt ihr denn anderes übrig?« flüsterte Tonio.
    Das Lächeln kehrte zurück, es war beinahe freundlich und dennoch so zerbrechlich. In diesem Mann steckt keine wahre Bosheit, redete sich Tonio verzweifelt ein. Da ist keine Bosheit, nicht einmal jetzt. Da ist eine ungeheure Unzufriedenheit.

    Eine Unzufriedenheit, die so schrecklich ist, daß

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