Falsetto
sie noch nicht an Niederlage oder Bitterkeit gedacht hat.
»Sie ist... was?« fragte Carlo. »Doppelt so alt wie du? Und was ist ihr Leben für sie bislang anderes gewesen als eine Strafe. Sie war ein Mädchen, als sie in dieses Haus kam, nicht wahr? Aber du brauchst mir nicht zu antworten, denn ich erin-nere mich an sie.«
»Sprechen Sie nicht von meiner Mutter.«
»Du sagst mir, ich solle nicht von deiner Mutter sprechen?«
Carlo beugte sich nach vorn. »Ist sie nicht wie du und ich aus Fleisch und Blut? Und war sie nicht in diesem Haus fünfzehn Jahre lang mit meinem Vater zusammen lebendig begraben?
Sag mir eines, Marc Antonio, findest du dich hübsch, wenn du in den Spiegel siehst? Entdeckst du bei mir dieselbe Schönheit, die du bei dir siehst?«
»Was Sie sagen, ist abscheulich!« flüsterte Tonio. »Wenn Sie noch ein weiteres Wort über Sie sagen...!«
»Oh, du drohst mir, nicht wahr? Dein Degen ist für mich ein Spielzeug, mein Junge, außerdem hast du bislang noch nicht einmal den Schatten eines Bartes auf deinem hübschen Gesicht, und deine Stimme ist so süß wie die ihre, das hat man mir wenigstens gesagt. Wage nicht, mir zu drohen. Ich werde über sie sagen, was ich will. Und ich frage mich, wie viele Worte nötig sein werden, um sie soweit zu bringen, daß sie diese Jahre bereut!«
»Sie ist die Frau Ihres Vaters, um Himmels willen«, stieß Tonio zwischen den Zähnen hervor. »Sie können mir Gewalt antun, wenn es Ihnen beliebt, ich habe keine Angst vor Ihnen.
Aber meine Mutter lassen Sie in Ruhe, sonst rufe ich, auch wenn ich noch ein Kind bin, jene Männer zu Hilfe, die mir bei-stehen werden!«
Oh, das war die Hölle, genauso, wie sie die Priester oder die Maler immer beschrieben hatten.
»Gewalt?« Carlo gab ein leises Lachen von sich, das aufrichtig schien. Sein Gesicht wurde weich, die Augen weiteten sich ein wenig. »Wer braucht denn Gewalt anzuwenden? Sie ist immer noch eine Frau, kleiner Bruder. Und sie ist einsam, sie sehnt sich nach der Berührung eines Mannes, falls sie sich überhaupt noch daran erinnern kann. Er gab ihr, als sie fast den Verstand verloren hätte, einen Eunuchen zum Liebhaber.
Nun, ich bin kein Eunuch. Ich bin ein Mann, Marc Antonio.«
Tonio hatte sich erhoben. Aber Carlo stand schon neben ihm.
»Sie sind tatsächlich ein Teufel aus der Hölle, so wie er es gesagt hat!« flüsterte Tonio.
»Ach, das hat er über mich gesagt?« rief Carlo. Er packte Tonio am Arm und hielt ihn fest. Sein Gesicht war verzerrt, aber es war Schmerz, was darin zu lesen war. »Er sagte, ich wäre ein Teufel, nicht wahr? Und hat er dir auch erzählt, was er mir angetan hat! Hat er dir erzählt, was er mir genommen hat!
Fünfzehn Jahre im Exil. Wieviel kann ein Mensch ertragen?
Wäre ich doch ein Teufel, dann hätte ich in diesem Inferno auch die Stärke eines Teufels besessen.«
»Sie tun mir leid!« Tonio befreite sich mit einem heftigen Ruck aus seinem Griff. »Sie tun mir leid.« Sie standen, den Tisch zwischen sich, einander direkt gegenüber. Die Diener hatten das Zimmer verlassen, überall strahlten jetzt Kerzen. »Ich schwöre bei Gott, Sie tun mir leid«, sagte Tonio, »aber ich kann nichts tun, und meine Mutter ist ebenso machtlos wie ich.«
»Machtlos? Ist sie das? Wie lang glaubst du, kannst du es in einem Haus aushalten, das gegen dich ist?«
»Sie ist meine Mutter, sie wird sich niemals gegen mich wenden.«
»Sei dir da nicht so sicher, Marc Antonio. Frage dich zuerst einmal, was für ein Verbrechen sie begangen haben könnte, um fünfzehn Jahre lang hier eingesperrt zu sein?« Er kam auf Tonio zu, der nun vor ihm zurückwich.
»Mein Verbrechen war, unter einem anderen Stern geboren worden zu sein, ein anderes Testament in die Wiege gelegt bekommen zu haben. Mein Vater verabscheute mich vom Tag meiner Geburt an, und niemand konnte ihn überzeugen, daß ich auch nur das kleinste Fünkchen Tugend besaß. Das war meine Sünde. Was aber war die ihre, daß er sich dazu he-rablassen sollte, sie zu seiner kindlichen Braut zu machen und sie, mit einem Kind als einzigem Gefährten, lebendig in diesem Haus einzumauern?«
»Gehen Sie«, sagte Tonio. Er konnte sehen, wie sich jenseits der Tür der dunkle Schacht des Großen Salons öffnete. Obwohl Carlo ihn nicht berührte, konnte er sich nicht losreißen.
»Ich werde dir sagen, was ihre Sünde war«, sagte Carlo. »Bist du bereit, es zu hören? Dann werden wir nämlich sehen, ob du weiterhin sagen darfst, ich dürfe vor
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