Falsetto
konnte. Er war müde und sehr beschämt.
Wenn Ernestino und die anderen den Regen scheuten, dann würde er allein losziehen, er würde sich einen Ort zum Singen suchen, einen Ort, wo er, anonym und vom Wein betäubt, singen konnte, bis er alles vergessen hatte.
An diesem Nachmittag hatte er San Marco mit dem Gefühl der Verzweiflung verlassen. An diesem Ort hatte er an die vielen Prozessionen seiner Kindheit denken müssen, an seinen Vater, wie er hinter dem Baldachin des Dogen einhergeschritten war, an den Geruch von Weihrauch, an jene endlosen, glas-klaren Wellen ätherischen Gesangs.
Danach war er mit seiner Cousine Catrina deren Tochter Francesca in dem Kloster besuchen gegangen, in dem sie untergebracht war, bis sie seine Frau werden sollte. Schließlich waren sie in dem unablässigen Regen wieder nach Hause gegangen, wo er mit Catrina allein war.
Sie hatten ganz gewiß nicht vorgehabt, sich zu lieben, diese Frau, die älter als seine Mutter war, und er. Aber sie hatten es getan. Das Zimmer war warm gewesen, erfüllt vom Schein des Kaminfeuers und ihrem Parfüm. Sie hatte über seine Geschicklichkeit gestaunt und über die Kraft, mit der er sich zwischen ihren Beinen bewegte. Ihr Körper war so sinnlich und üppig gewesen, wie er ihn sich stets vorgestellt hatte. Hinterher hatte er eine entsetzliche Scham verspürt und das Gefühl gehabt, die Grundfesten seines Lebens seien erschüttert.
»Warum benimmst du dich so?« hatte sie wissen wollen. Er müsse dieses nächtliche Umherziehen aufgeben, es hätte nie eine Zeit gegeben, in der vorbildliches Verhalten so wichtig war wie jetzt. Eine merkwürdige Strafpredigt, bemerkte er leise aus seiner Laube aus duftenden Kissen hervor. »Wie kann es sein, daß sein Groll dir so zusetzt?« beharrte sie.
Er wußte darauf keine Antwort. Was sollte er sagen? Warum hast du mir nicht gesagt, daß Marianna jenes Mädchen war?
Warum hat es mir denn niemand gesagt?
Aber er brachte kein Wort heraus, denn langsam wuchs in ihm Angst. Sie wuchs mit jedem Tag, der verging, und wurde immer schrecklicher. Er wandte sich von Catrina ab.
»Ist schon gut, mein Troubadour«, hatte sie geflüstert. »Sing, solange du noch kannst. Es gibt junge Männer, die weit Schlimmeres getan haben.« Und während sie ihn sanft und aufreizend zwischen den Beinen streichelte, sagte sie: »Dir bleibt, weiß der Himmel, nicht mehr viel Zeit, um diesen wunderschönen Sopran zu genießen.«
Eine Stimme in der leeren Kirche, von den goldenen Wänden zurückgeworfen, kam ihm in den Sinn, wie um sich über ihn lustig zu machen.
Aber er war nach Hause gegangen. Warum? Um von Lena zu hören, daß Alessandro mit der Begründung, seine Dienste als Tonios Hauslehrer seien überflüssig, von seinem Bruder entlassen worden war? Alessandro war fort. Seine Mutter befand sich irgendwo für ihn unerreichbar hinter verschlossenen Tü-
ren.
Als er jetzt allein am Eßtisch saß, an dem er seit Monaten nicht mehr gesessen hatte, vernahm er Schritte, Schritte, die dieses Zimmer betraten. Aber er rührte sich nicht, als er hörte, wie sich jene massiven Türen knarrend schlossen, zuerst die eine Flügeltür, dann eine weitere.
Das Licht veränderte sich, oder?
Ich kann ihm nicht ewig aus dem Weg gehen.
Der Himmel verdunkelte sich. Von dem Platz aus, an dem er saß, konnte er bis zum Rand des Wassers sehen. Er hielt seinen Blick fest dorthin gerichtet, selbst als sich ihm zwei Gestalten näherten. Beinahe verzweifelt leerte er den silbernen Becher mit Wein. Sie ist ebenfalls gekommen, dachte er. Das hier ist die reinste Höllenqual.
Eine Hand wurde ausgestreckt, um den Becher wieder mit Wein zu füllen.
»Laß uns jetzt allein«, sagte sein Bruder.
Er hatte diese Worte an den Diener gerichtet, der die Flasche Wein abstellte und sogleich verschwand.
Tonio drehte sich langsam um. Ah, ja, sie ist es, sie ist bei ihm. Die Kerzen blendeten ihn. Er hob die Hand, um seine Augen abzuschirmen, dann sah er, was er zu sehen geglaubt hatte, nämlich daß ihr Gesicht rot und geschwollen war.
Sein Bruder schien ungewöhnlich grob, so als hätte ihn irgendein Streit an den Rand seiner Beherrschung gebracht. Als er sich dann, die Hände fest auf den Tisch gestützt, nach vorn lehnte, dachte Tonio zum ersten Mal: Ich verachte dich! Ja, es ist wahr, ich verachte dich!
Diesmal aber war da kein Lächeln. Da war keine Verstellung.
Sein Gesicht war hart.
»Sag es ihm«, meinte sein Bruder.
Tonio blickte langsam auf.
Seine
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