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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Gefühl, etwas geleistet zu haben, im Mittelpunkt eines wunderbaren archaischen Rituals zu stehen – die Frau des Hauses bekommt ein Kind; das Haus war dankbar, hatte Alison immer gespürt, als hätte sie es geschmückt, seinem Innenleben etwas einzigartig Grandioses hinzugefügt. Die Klinik war eine furchtbare Enttäuschung: Ringsherum Fremde, andere Frauen mit ihren eigenen Bündeln und lärmenden Verwandten, herumpolternde Krankenschwestern, die einem das Baby an die Brust klemmten, als schlössen sie ein Gerät an die Steckdose an, die Fließbandärzte und -hebammen, die so und so viele Babys pro Tag ans Licht der Welt beförderten.
    Es gibt keine Aufzeichnungen über alle Geburten, die in Allersmead stattgefunden haben, aber es ist anzunehmen, dass im Zeitalter der Unschuld, vor 1914, so mancher kleine Edwardianer hier seinen ersten Schrei ausgestoßen hat. Auch später, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, müssen hier Babys zur Welt gekommen sein, vielleicht bis in die Kriegsjahre hinein, ein kollektives Entrüstungsgebrüll, mit dem eine kalte, grelle Welt begrüßt wurde. Diese Schreie sind in die Mauern eingegraben, mit allem anderen, was das Haus gehört und gesehen hat; die Babys sind groß geworden und fortgegangen, manche von ihnen sind schon gestorben, aber irgendwo gibt es vielleicht noch ein altes Augenpaar, für das eine Zimmerdecke in Allersmead der erste Anblick im Leben war, dessen erstes Blinzeln dem Licht galt, das durch ein allersmeadsches Fenster fiel.
    Die Väter der vergangenen Zeiten verhielten sich in Allersmead zweifellos traditionsgemäß und schritten auf und ab, während Frauen mit dem Erhitzen von Wasser beschäftigt waren und der Arzt mit seiner schwarzen Tasche die Treppe hinaufeilte. Charles schritt nicht auf und ab; er fuhr mit seiner Arbeit fort, abgelenkt durch das Kommen und Gehen und überhaupt durch die allgemein bedeutungsschwere Atmosphäre. Ihm war unangenehm bewusst, dass er die tragende Rolle spielte, dass er unvermeidlich in die Sache verwickelt war, aber momentan auch überflüssig. Hebammen trieben ihn zum Wahnsinn, indem sie ihn Daddy nannten, Ingrid rührte auf die Schnelle dürftige Mahlzeiten zusammen, die bereits vorhandenen Kinder tobten außer Rand und Band im Haus herum. Wenn das Drama seinen Abschluss erreicht hatte, ging er nach oben (»Jetzt möchte jemand gern Daddy kennenlernen«) und erfüllte seine Pflicht am Bettrand, während Alison strahlte und das schniefende Bündel sich wand und krümmte; es kam ihm immer bemerkenswert menschenunähnlich vor. Er musste, obwohl er diesen Gedanken zu verdrängen suchte, unweigerlich an das Ferkel in Alice im Wunderland denken.
    Alison blickt wehmütig zu diesen friedlichen Anfangsjahren zurück. Babys kamen zur Welt, ewig lange schien es um sie herum immer Kleinkinder und ein Baby zu geben, und die Probleme blieben überschaubar – Zahnen, Keuchhusten, ein bisschen Eifersucht unter den Geschwistern. Aber von Ewigkeit konnte überhaupt keine Rede sein, in einem wilden Rennen stürmten alle die Messwand hoch, und plötzlich wichen die lenkbaren kleinen Gestalten einem widerspenstigen Haufen, der einem zutiefst vertraut, aber gleichzeitig bestürzend unbekannt war. Eine fremde Kraft von außen hat ihre Finger nach Allersmead ausgestreckt, hat Veränderungen in Gang gesetzt, und Alison steht hilflos daneben.
    Alison reagiert. Sie erfindet sich neu. Sie betrachtet sich nun als die Hüterin, die über die Sicherheit ihrer Kinder wacht. Sie brauchen Allersmead, brauchen die Mutter immer noch, sie schlagen mit den Flügeln, aber flügge sind sie noch nicht.
    So werden die friedlichen Jahre von anstrengenderen Zeiten abgelöst. Alison entdeckt, dass sie sich anpassen kann, und Allersmead tut dasselbe. Die Hochstühle der Babys wandern zum Gerümpel auf den Speicher. Dreiräder weichen Fahrrädern, die vor der Eingangstreppe auf den Kiesboden geworfen werden; das Kurbelgrammofon aus dem Spielzimmer (»Der Bauer braucht ’ne Frau, der Bauer braucht ’ne Frau …«) wird von Pauls Anlage, von Sandras Walkman überholt. Auf den Schaukeln im Garten siedelt sich Moos an, der Sandkasten liegt unter toten Blättern begraben. Das ist alles in Ordnung, bestens, alles ist wie immer und doch anders. Alison hat sich dem Strom der Zeit entgegengeworfen, kann ihn zwar nicht aufhalten, schwimmt aber doch oben und hält den Kurs.
    Und es kommt noch schlimmer. Viel schlimmer. Sie hat mit Wildwasser zu kämpfen und navigiert hindurch.

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