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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Schreibmaschine zurück. Aber mit Ingrid ist noch etwas anderes ins Zimmer geschlichen. Unbehagen ballt sich zusammen. »Ingrid, ich bin gerade mittendrin«, sagt er. »Wo ist Alison?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, oben.«
    Schweigen. Ingrid geht nicht. Charles nimmt ein Blatt von seinem Manuskriptstapel, legt es wieder zurück, wartet, blickt vorsichtig über die Schulter und begegnet wieder Ingrids kühlem blauem Starren.
    »Ingrid«, sagt er. »Wirklich – ich weiß nicht, was ich tun soll …« Seine Stimme verebbt.
    »Ich weiß, dass du das nicht weißt«, sagt Ingrid. »Du weißt es nicht, und ich weiß es auch nicht.«
    Sie verlässt das Zimmer.
    Wieder allein, starrt Charles zornig auf das Blatt in der Schreibmaschine. Er macht ein finsteres Gesicht, tippt etwa zwanzig Sekunden lang wie wild und bricht dann ab. Er stellt fest, dass er nicht mehr taub ist; er hört Küchengeräusche, hört, wie ein Kind ein anderes anschreit, wie die Tür zuknallt. Das Haus brodelt rings um ihn, die Welt rückt ihm zu dicht auf den Leib, was soll ein Mann da machen?
    Der Nachmittag ist fortgeschritten. Das Licht ist weicher geworden, die Schatten länger; alle sind zu Hause, das Haus vibriert vor Leben. Paul hat keinen seiner Freunde auftreiben können und trampelt die Treppe hinauf in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett wirft und in mürrischem Selbstmitleid schwelgt. Gina bringt ihren Brief zum Briefkasten an der Ecke. Katie und Roger spielen im Garten, Clare tappelt ihnen unermüdlich hinterher. Sandra ist vom Shoppen zurück, mit befriedigender Beute und einer neuen Frisur. Alison und Ingrid beginnen in der Küche mit den Vorbereitungen für das Abendessen, beide ungewöhnlich still.
    Charles quält sich eine Stunde lang herum. Die Inspiration ist versiegt. Er tippt, wirft das Blatt weg, tippt noch etwas und vergeudet ein weiteres Blatt. Es gelingt ihm nicht, den produktiven Fluss wieder in Gang zu bringen. Schließlich gibt er auf. Frustriert schiebt er die fertigen Seiten zusammen. Er muss hinaus, eine Weile spazieren gehen. Vielleicht klärt das die Gedanken, aber er hat den Verdacht, dass der Rest des Tages den Bach runtergeht. Er hatte gehofft, mit diesem Kapitel weiterzukommen.
    Er geht in die Eingangshalle und zieht den Mantel an. Der Hund zwängt die Tür zum Arbeitszimmer auf und klettert auf den Ledersessel, einen seiner Lieblingsplätze. Charles geht in die Küche und nimmt seinen Hausschlüssel von den Haken an der Anrichte, wo alle Schlüssel hängen. Beide Frauen blicken ihn an, ohne etwas zu sagen.
    Charles sagt: »Ich gehe mal raus und bin vielleicht länger weg.«
    Als er die Straße überquert, hört er seine eigene Stimme wieder, und seine Verabschiedung kommt ihm ein wenig unangemessen vor: Er ist ja schließlich nicht der kranke Lawrence Oates, der auf Scotts Südpolexpedition mit diesen Worten das Zelt verließ, um den Heldentod zu sterben, sondern er entflieht nur kurz seiner Familie. Aber es besteht ohnehin keine Gefahr, dass Alison oder Ingrid die Anspielung mitbekommen.
    Charles läuft ziellos durch die Gegend und versucht sich auf den Rest dieses Kapitels zu konzentrieren, den Stoff und die Argumente zu ordnen, den roten Faden herauszuarbeiten. Etliche Nachbarn bemerken ihn, den Mann, der mit diesen vielen Kindern in Allersmead wohnt; er jedoch nimmt die anderen kaum wahr. Manche kennen ihn als Alisons Mann – Alison ist geselliger; ihnen fällt auf, dass sie eigentlich nie mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt haben. Was macht er gleich wieder? Arbeitet anscheinend zu Hause. Das grenzt ihn von allen ab, die ein Büro und feste Arbeitszeiten haben, und erzeugt, je nach persönlicher Veranlagung, leichte Verachtung oder unterdrückten Neid. So oder so, er ist nicht der nette Kerl, mit dem man mal ein Bier trinken geht oder über den neuesten Blödsinn lästert, den der Gemeinderat wieder ausgeheckt hat. Eine Frau mustert ihn und findet ihn insgeheim ziemlich gut aussehend, ein bisschen wie diesen amerikanischen Schriftsteller, der Marilyn Monroe geheiratet hat, aber die Hausfrau in Allersmead ist keine Marilyn Monroe, bei Gott nicht.
    In Wirklichkeit weilt Charles an jenem Frühlingsabend im Jahr 1982 nicht in diesem betuchten englischen Vorort, sondern unter den Buschmännern der Kalahari, wo er nie gewesen ist, und in einem israelischen Kibbuz; er vergegenwärtigt sich in allen Details den Lebensstil der französischen Bauern im 17. Jahrhundert und stellt Vermutungen über die Familie

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