Familienalbum
wollte«, sagt Roger.
Kate bestreitet das. »Stimmt nicht. Dazu war sie viel zu planlos. Und Dad hat nie etwas getan, was er nicht wollte. Er hat sich immer herausgehalten.«
»Oder festgestellt, dass er nicht weiter gefragt war.«
»So sehe ich das nicht ganz. Er ist in sein Arbeitszimmer verschwunden und hat die Zugbrücke hochgezogen. Sie hat alles gemacht. Sie und Ingrid.«
»Der Harem? Oder das fürchterliche Frauenregiment?«
»Roger, also wirklich …«
»Oder beides? Manchmal frage ich mich … Aber das können wir nicht wissen.«
»Wir waren doch da «, sagt Katie.
»Zu sechst. Zu neunt sogar. Würden wir alle dieselbe Geschichte erzählen? Zum Beispiel über diese Sommerferien in Cornwall. In Crackington Haven.«
Sie hängen in Gedanken einem August nach, der längst vergangen und vorbei ist, aber auch wieder nicht, sondern immer noch in ihren Köpfen – und wohl nicht nur den ihren – flirrt, eine Collage aus Bruchstücken, aus Meer, Felsen und Sand, aus Gesichtern und Stimmen, aus Gesagtem und Getanem, aus Gesehenem und Gedachtem.
»Du meine Güte«, sagt Katie. »Eine Aufregung nach der anderen. Paul und die Polizei. Sandra die ganze Zeit mit diesem Kerl unterwegs. Und plötzlich taucht Ingrids Typ auf.«
»Im Gegenteil, es war ein herrlicher Sommer. Ich hatte einen Drachen. Und habe meine Begeisterung für Meeresbiologie entdeckt.«
»Stinkende tote Dinger in Eimern. An die erinnere ich mich allerdings.«
»Polizei?«, fragt Roger. »Kerl? Typ? Ich habe vage Erinnerungen an etwas Unruhe am Rand meines Gesichtsfelds. Darauf will ich ja hinaus. Dein Cornwall war offensichtlich nicht mein Cornwall. Noch das von jemand anderen. War nicht Mums Cornwall. Oder Dads Cornwall.«
Cornwall flimmert vor ihren Augen, ein alter, von der Zeit ramponierter Film, den sie noch einmal ablaufen lassen.
»Wer hat nun recht?«, fragt Roger. »Wer sieht das Ganze?«
*
Sie haben ein Ferienhaus mit fünf Schlafzimmern gemietet. Paul und Roger müssen sich ein Zimmer teilen, ebenso Katie und Clare, Gina und Sandra (unter Protest). Charles und Alison. Ingrid hat als Einzige ein Zimmer für sich, es ist aber nur ein Schlauch neben der Küche, vielleicht die alte Speisekammer. Das ganze Haus ist mit Möbeln vollgestopft: Im großen Wohnzimmer stehen dicht an dicht klobige Sessel; man kämpft sich durch ein Dickicht von Beistelltischchen, Zeitungsständern und Fußhockern. Im Wintergarten, gleichzeitig Esszimmer mit Meerblick, stehen Stapel weißer Plastikstühle und ein Kartentisch. Die Küche ist mangelhaft ausgestattet, was aber nicht weiter stört, da Alison ihre eigene batterie de cuisine mitgebracht hat: ihre Lieblingstöpfe, Auflaufformen, Messer, Utensilien. Die Matratzen auf den Betten haben alle einen Plastiküberzug, den Alison widerlich findet und abnimmt. Auf jeder freien Fläche im Wohnzimmer wuchern Grünpflanzen, die Alison in die Garderobe verbannt, zum ganzen Müll ihrer Vormieter: Regenumhänge (zerrissen), Wasserbälle (mit Löchern) und Eimer (undicht). Zu den weiteren Hinterlassenschaften gehören ein Regal mit Taschenbüchern (von Charles verächtlich begutachtet) sowie Krimskrams wie unter Sessel und Schränke gerutschte Spielkarten, in der Dusche vergessene Shampooflaschen, Zeitschriften, eine Postkarte aus Portugal an eine gewisse Ella, mit der Nachricht, dass Joey jetzt schwimmen kann, sowie ein Sonnenhut aus rosa Baumwollstoff mit Gänseblümchenborte.
Gina betrachtet die Zeitschriften, die Postkarte und den Sonnenhut und versucht, sich ihre früheren Besitzer vorzustellen: Wie klangen die Stimmen des letzten Monats, wie haben die Gesichter ausgesehen?
Sandra prüft das Shampoo und wirft es in den Mülleimer. Eine minderwertige Marke.
Paul entdeckt auf dem Regal unter dem Telefon einen Busfahrplan, der ihn aufmuntert.
Crackington Haven ist ein kleiner Ferienort: ein paar verstreute Häuser und Cottages, von denen die meisten den Sommer über vermietet werden, ein Dorfladen, ein paar Eiswagen, die täglich aufkreuzen, eine Würstchenbude auf Rädern. Keine Cafés, Pubs oder Einkaufszentren, alles Gründe, warum Alison diesen Ort ausgesucht hat. Ein wirklich wunderbarer Familienurlaubsort, ganz unverdorben, abseits der touristischen Trampelpfade, nur herrliches Meer, ein netter kleiner Strand und wunderbare Wanderwege entlang der Klippen.
Mit einigen Dingen hat sie allerdings nicht gerechnet: mit dem Busfahrplan, dem Telefon und anderen Urlaubern.
*
Roger lebt im Rhythmus der
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