Familienalbum
Rummelplatz landet. Er läuft gern, läuft auch hier, allerdings meist allein, weil die Idee des Laufens um des Laufens willen bei seinen Sprösslingen keinen Anklang findet und Alison ziemlich schnell außer Atem kommt.
Er ist siebenundvierzig. Sein Alter hat ihn nie sonderlich interessiert, aber gelegentlich ertappt er sich dabei, wie er diese Gestalt im Spiegel betrachtet: Da scheint bereits erschreckend viel Leben davongesickert. Er ist mit seinen Erfolgen zufrieden, hat aber das Gefühl, sein Magnum Opus liege noch vor ihm. Was wird es sein? Er ist für seine Vielseitigkeit bekannt. Jetzt wartet er darauf, dass ihn ein neues, leidenschaftliches Interesse anwandelt. Unterdessen beschäftigt ihn ein Projekt über die Dichter der Romantik, ein rein kommerzielles Auftragswerk. Zur Einstimmung läuft er den Klippenpfad über Crackington Haven entlang und denkt über den neuen Romantikboom nach.
Oder versucht es. Aber heute lenkt ihn einiges ab. Die Aussicht – die schwerelos segelnde Wolkenflotte, der aufgeweichte Rand des Horizonts mit der grauen Silhouette eines Schiffs und da unten, am Fuß der Klippen, Tennysons »kriechende Runzelsee«. Der Auftritt wegen Paul gestern Abend, Bilder, die nicht verblassen wollen. Und schließlich Gedanken, die seine Arbeit über die romantischen Dichter nicht vorantreiben, sondern der Existenz jener Dichter selbst entspringen: die Gleichzeitigkeit der Dinge, die Tatsache, dass die Romantiker weiterleben, weil er und eine Menge anderer sich für sie interessieren, was übrigens auch für Tennyson gilt, mit dessen Worten das Meer auf immer und ewig verbunden ist, wenn man denn einen Hang zur Poesie hat. Gleichzeitigkeit, Nebeneinander, das Fehlen jeder Abfolge.
Lauert hier womöglich das Magnum Opus ? Falls ja, versteckt es sich sehr gut; Charles kann jedenfalls über diese eine verblüffende Erkenntnis nicht hinausblicken. Merkwürdigerweise schlägt sie nun in eine Vision seiner eigenen Kinder um, die er plötzlich als mannigfache Wesen wahrnimmt, als viele, immer noch gegenwärtige Inkarnationen: Kleinkinder, Schulkinder, Babys, ungelenke Teenager, alle beliebig aufrufbar.
Darüber sinnt er nach, als er oben auf dem Klippenpfad einen Fuß vor den anderen setzt, vorbei an Grasnelkenpolstern, an Ginstergestrüpp, an Felsbuckeln, die Steingärten ähneln – so tief ist er in seine Überlegungen versunken, dass er nichts davon bemerkt. Ihm kommt der Gedanke, dass ein Romanautor aus diesem Problem der Abfolge, wenn es denn eines ist, mehr herausholen würde als ein ernsthafter Analytiker wie er.
*
Ingrid bekommt einen Anruf. Sie spricht eine ganze Weile mit gedämpfter Stimme, in ihrer Muttersprache.
*
Ingrid sagt: »Eine Bekanntschaft von mir ist in Cornwall und würde gern ein paar Tage herkommen. Geht das?«
»Selbstverständlich«, sagt Alison. »Wie nett. Sie wird nichts dagegen haben, bei dir im Zimmer zu schlafen, oder? Wir haben da noch dieses zusätzliche Klappbett.«
»Nein, er wird nichts dagegen haben«, sagt Ingrid.
Starrende Blicke. Sandra schlägt die Hand vor den Mund; sie ist beeindruckt. Schau an! Wer hätte das gedacht!
Alison blinzelt. »Ah. Ja – dann ist’s ja gut.«
Nur Charles zeigt keine Reaktion. Vielleicht hat er nicht zugehört.
*
Das Alter lastet auf Alison. Nicht ihr eigenes. Das der Kinder, die keine Kinder mehr sind, außer Clare und vielleicht Roger, der auf der Kippe steht. Die anderen verschwinden hinter dem Horizont, und sie ist entsetzt. Das sollte nicht sein. Jetzt noch nicht. Natürlich werden sie groß, aber Alison hatte sich stets im Gefühl gewiegt, es sei noch lange, lange hin. Und jetzt, diesen Sommer, ist es plötzlich so weit. Es liegt nicht nur an der Körpergröße, an den neuen Interessen – Alison merkt, dass die Kinder davonziehen, an Orte, von denen sie nichts weiß. Einmal waren sie unendlich vertraut, berechenbar; bestürzend, wie sie sich jetzt entziehen. Man weiß nicht, was sie denken, und sehr oft auch nicht, was sie tun.
Paul. Er ist auf Irrwege geführt worden, kein Zweifel, ist in diesem College an üble Typen geraten. Von denen wurde er umgepolt. Das ist nicht mehr der alte, vertraute Paul, der manchmal ein bisschen frech war, aber nichts, womit sie nicht fertigwurde. Böse Menschen haben ihm Drogen eingeflößt, ihn von seinem Studium abgelenkt und in diesen Kerl verwandelt, der dauernd mit dem Bus nach Bude fährt, statt mit ihnen gemeinsam diesen wunderbaren Familienurlaub zu genießen.
Sandra und
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