Familienalbum
Vielleicht die Ursache des Ärgers. Der kleinere Ärger besteht darin, dass Paul sich nicht angestrengt hat und am Jahresende die Prüfungen nicht bestanden hat. Über den größeren Ärger wird nur geflüstert; Alison nimmt Charles dazu beiseite. Trotzdem weiß Katie Bescheid. Und Sandra. Und Gina. Paul wurde mit Drogen erwischt. Deshalb ist Paul diesen Sommer unter Arrest; er muss sich einer Besserungsmaßnahme unterziehen, einem von den städtischen Behörden veranstalteten Abendkurs, und Rechenschaft über jeden Schritt und Tritt ablegen. Bude ist dabei nicht vorgesehen.
Das Abendessen ist fertig und Alison immer noch am Jammern. Wie es aussieht, will sie das Essen verschieben und die Küstenwache alarmieren. Die Episode von Pauls Rettung in den Klippen ist erst drei Jahre her. Der gesunde Menschenverstand sagt Katie, dass sie nur eine Wahl hat: Sie muss Paul verpfeifen.
*
Auch Clare braucht die Ebbe. Sie braucht diese weite Fläche aus hartem, feuchtem Sand. Aber sie hat Konkurrenten, die kricketbesessene Familie und die Volleyballer.
Sie übt Handstand. Sie geht auf den Händen. Sie schlägt Räder, eins nach dem anderen, bis Crackington Haven sich vor ihren Augen dreht und sie, als sie schließlich stehen bleibt, ins Taumeln gerät.
Sie hat sich mit einem Mädchen angefreundet, mit Emma. Emma wird nie in ihrem Leben einen Handstand oder ein Rad zustande bringen, taugt aber als Publikum, und wenn Clare – für den Augenblick – mit ihren Rädern fertig ist, wollen sie zusammen einen Graben buddeln.
*
»Dann ist er also nach Bude gefahren«, sagt Gina. »Na und? Bude ist nicht Las Vegas. Er ist neunzehn , Mum.«
»Er hätte Bescheid sagen sollen. Er weiß , was vereinbart ist. Er kennt die Regeln. Er hätte es mit uns besprechen sollen. Wir hätten alle zusammen hinfahren können, als Familienausflug. Es war nicht nötig, einfach so zu verschwinden, ganz allein. Nach allem, was man so hört, ist Bude grässlich: Menschenmassen, Billigläden, zwielichtige Kneipen. Da sind anscheinend lauter Biker in Lederkluft und weiß Gott wer sonst noch alles. Genau deshalb haben wir uns ja für Crackington Haven entschieden.«
Alisons bestürzte Klagen hallen im Wintergarten-Esszimmer wider. Die von dem Vorfall nicht Betroffenen lassen sich das Abendessen schmecken. »Gibt’s noch mehr?«, erkundigt sich Roger. Sandra hat gerade angewidert festgestellt, dass sie vergessen hat, beim Sonnen die Uhr abzunehmen; jetzt zeichnet sich ums Handgelenk ein heller Streifen ab.
Gina wendet sich an Charles. »Was ist deine Meinung dazu, Dad?«
Eine Herausforderung. Bekenne Farbe – so oder so.
Charles scheint zu überlegen. »Ich war noch nie in Bude.«
»Doch, warst du!«, schreit Alison. »Wir sind mal hingefahren, als wir einen neuen Auspuff fürs Auto brauchten. Aber das ist doch jetzt egal. Es geht ums Prinzip . Das weiß er ganz genau.«
Gina seufzt. Das hatten wir schon öfter. Unzählige Male. Mum rastet aus (meist wegen Paul); Dad hält sich raus.
Alison regt sich weiter auf, lang und breit. Als sie einmal Luft holt, ergreift Charles das Wort. Er sagt: »Paul wird vermutlich zu gegebener Zeit zurückkehren. Dann kann man die Sache weiter erörtern.« Er legt sein Messer und seine Gabel nebeneinander auf den Teller, erhebt sich und verlässt den Tisch.
Gina beobachtet ihn. Hat er nicht ganz unrecht? Wie sieht er die Dinge? Wir hören viel davon, wie Mum die Dinge sieht, aber was nimmt er wahr? Was ist überhaupt zu sehen?
*
Charles hat drei Kisten Bücher, seine Schreibmaschine und einen Stoß Papier mit in den Urlaub genommen. Damit und mit dem Gepäck aller anderen, Alisons Küchenausrüstung, Pauls Gitarre und weiteren Unentbehrlichkeiten war das Familienauto, ein VW -Bus mit zehn Plätzen, so überladen, dass alle außer Charles, Alison und Clare mit dem Zug fahren mussten.
Charles hat vor, so viel wie möglich zu arbeiten. Den Sommerurlaub fand er schon immer besonders anstrengend. Er hat kein richtiges Arbeitszimmer, in das er sich zurückziehen könnte; den Gemeinschaftsaktivitäten kann er nur bis zu einem gewissen Grad entrinnen (zum Glück ist die Ära des Sandburgbauens vorbei), er muss an den Ausflügen zu Sehenswürdigkeiten teilnehmen. Dem ist er auch nicht unbedingt abgeneigt, Burgen oder Herrenhäuser besichtigt er ganz gern. Aber was sehenswürdig ist und was nicht, wird in der Familie hitzig diskutiert, und es kann ihm genauso gut passieren, dass er auf einer Kunsteisbahn oder einem
Weitere Kostenlose Bücher