Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
Vom Netzwerk:
Gezeiten. Was er braucht, ist Ebbe. Täglich, stündlich wartet er auf sie. Gleich frühmorgens geht er hinaus, um den Stand der Dinge zu prüfen. Bis zum Strand hoch rollende Wellen sind eine Hiobsbotschaft; da wird es Stunden dauern, bis sich die Flut zurückzieht, Stunden, bis die Felstümpel wieder frei liegen, Stunden, bis er hinausgehen und auf Beutezug gehen kann, die Augen auf den Boden geheftet, das Netz in der Hand, die Eimer und Schraubgläser aufgereiht auf einer Felsplatte.
    Abends brütet Roger über seinem Meeresküstenführer. Er wird beim Bestimmen richtig gut. Was er gefangen und identifiziert hat, listet er in einem Notizbuch auf. Der tägliche Fang wallt, kriecht und zappelt in den Behältern, die – Alison besteht darauf – draußen bleiben müssen. Morgens bringt er die ganze Fauna wieder in ihre angestammte Umgebung zurück, oft inklusive einiger Todesfälle, die er bedauert, aber wissenschaftliche Recherche erfordert nun mal eine gewisse innere Distanz. Roger ist abgetaucht, aufgesogen, besessen vom Forscherfieber. Er hat nichts anderes im Kopf als Seeanemonen und Seeigel, Napf- und Wellhornschnecken, Krabben und Nacktkiemer. Einen scharlachroten Kurzarmigen Seestern, eine Meerzitrone und einen Gabeldorsch hat er bereits gefunden. Nichts wünscht er sich sehnlicher als einen Seeschmetterling. Das Bestimmungsbuch hat seinen Ehrgeiz entfacht, darin sind faszinierende Wesen abgebildet, denen er noch nicht begegnet ist. Er muss unbedingt eine Felsengrundel und eine Samtkrabbe ins Netz kriegen. Ob ihm das vor dem Ende der Ferien noch gelingt? Er kann es sich nicht erlauben, auch nur eine Sekunde Ebbe zu verlieren, selbst wenn es windig ist und der Drachen ruft. Die besten Tage sind die mit Flut und gleichzeitig Wind, dann kann er hinauf auf die Klippe, über ihm tanzt der Drachen, und unten wartet das Meer darauf, zu gegebener Zeit abgeerntet zu werden.
    Pferdemuschel? Nordische Purpurschnecke? Er kauert draußen vor der Küchentür und starrt in den Eimer, neben sich das aufgeschlagene Buch. Er hört Alisons Stimme, lässt sie aber nicht zu sich durchdringen, ein Hintergrundgeräusch, so irrelevant wie eine Schmeißfliege an der Fensterscheibe. »Wo ist Paul?«, ruft Alison. »Wo kann der bloß abgeblieben sein? Hat jemand von euch Paul gesehen?«
    *
    Sandra hat den ganzen Tag in ihrem rosa Bikini auf dem Sand gelegen. Hin und wieder, wenn die Kälte allzu unerträglich wird, setzt sie sich auf und zieht ihr Handtuch eng um sich, den Blick wie ein Zielfernrohr auf das andere Ende des Strands gerichtet, wo die Familie des Jungen lagert und er, zusammen mit einem jüngeren Bruder, träge einen Ball herumkickt.
    Es funktioniert. Man hat nicht vergeblich gelitten. Immer häufiger wirft er kurze Blicke zu ihr herüber. Immer wieder fliegt der Ball in ihre Richtung, bis er einmal ihre Beine streift. »Sorry!« , ruft der Junge. Sie sieht ihn aus den Augenwinkeln an, ihre Augen glimmen auf.
    Das geschieht am Tag drei. Tag eins war die totale Pleite. Der Strand hatte nichts zu bieten als Sandburgen bauende Kinder, umherspringende Hunde und Windschutzplanen aufrichtende, ihr Territorium absteckende Eltern. Sandra saß in Shorts und Pulli auf einem Felsen und starrte wütend und verdrossen aufs Meer hinaus. Andere Familien fahren an die Algarve oder nach Mallorca, wo es richtige Sonne gibt und man anständig braun wird, aber wir müssen unbedingt in dieses verdammte Crackington Haven.
    Am Ende von Tag zwei ändert sich alles. Sie hat ihn entdeckt. Achtzehn wahrscheinlich – vielleicht sogar neunzehn. Sehr süß. Plötzlich bekommt Crackington Haven ein neues Gesicht. Die Sonne ist nicht so schwach wie gedacht, der Strand und die Klippen sind eigentlich sehr hübsch. Jetzt ist es nur noch eine Frage des rosa Bikinis und der Ausdauer.
    *
    Katie weiß, wo Paul ist. Paul ist entweder in Bude oder auf dem Weg dorthin. Das weiß sie, weil sie ihn an der Bushaltestelle getroffen hat. »Du hast mich nicht gesehen, klar?«, schärft er ihr ein, und nun steckt sie in der Zwickmühle, als Alison immer unruhiger durchs Haus rennt. Wem ist Katie zu mehr Loyalität verpflichtet?
    Paul hatte Ärger am College und ist deshalb diesen Sommer ans Haus gebunden. Er hat es nicht auf eine der von Alison so bezeichneten »netten Unis« geschafft und macht eine technische Ausbildung an einem College, das er selbst als total mies einstuft. Aber eigentlich ist ihm das gerade recht, denn man wird dort ziemlich in Ruhe gelassen.

Weitere Kostenlose Bücher