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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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das Rückflugticket im Gepäck und der Pass eines Landes, wo alles anders läuft, für Abstand sorgen. Sie sind Voyeure, spürt Gina manchmal voller Unbehagen; dann muss sie sich ins Gedächtnis rufen, dass diese Sorte Voyeurismus gutartig ist und etwas bewirken, Hilfe bringen kann.
    Die Kinder dieser Katastrophenwelten haben zum größten Teil nie etwas anderes kennengelernt. Das Elend ist die Norm, nichts weiter. Sie akzeptieren Hunger und Brutalität nicht, sondern wissen einfach nicht, dass das Leben auch ganz anders sein kann.
    Gina denkt an ihre Kindheit in Allersmead. Behütet, privilegiert. Auch sie geprägt vom Merkmal jeder Kindheit: Die Welt von Allersmead war die einzige, die Gina und ihre Geschwister kannten; sie konnten sich kein anderes Leben vorstellen. Freilich nur, bis sie ein bisschen größer waren, sich umsahen und merkten, dass es ganz unterschiedliche Familien gibt, dass nicht alle Häuser einen Keller haben und nicht alle Küchen einen Tisch, an dem zwölf Personen Platz finden, dass andere Eltern anders sind, aber trotzdem als Eltern identifizierbar.
    Sie erinnert sich, dass diese Erkenntnisse für sie wie eine Offenbarung waren. Sie erinnert sich, wie sie – plötzlich? allmählich? – merkte, dass sie Allersmead hinter sich lassen und aus einer gewissen Distanz heraus betrachten konnte, wie eine Außenstehende. Sie betrachtete ihre Eltern und sah sie mit neuen Augen, mit einem kühlen, abschätzenden Blick.
    Gina fragt sich manchmal, ob sie durch diese frühen Übungen im Analysieren, Beurteilen und Hinterfragen zu ihrem heutigen Beruf gelangt ist. Journalisten stellen Fragen. Gina hinterfragte schon früh ihre eigenen Lebensumstände. Dann begann sie wie von selbst, viele andere Umstände zu hinterfragen.
    *
    Gina erklärt dem Bildungsminister, es sei eine Schande, wie die Regierung mit den streikenden Bergarbeitern umgesprungen sei. Der Bildungsminister erwidert mit leichter Schärfe, er sei nicht hergekommen, um über den Bergarbeiterstreik zu diskutieren, obwohl er ihre Ansicht zur Kenntnis nimmt; er sei hier, um Oberstufenschüler zu begrüßen und die Bildungspolitik der Regierung darzulegen. Auch zu diesem Thema hat Gina eine Menge Fragen; als der Minister geht, fühlt er sich leicht zerfleddert. Man erwartet nicht, von irgendwelchen Jugendlichen an einer Provinzschule auseinandergenommen zu werden. Höflich bleckt er vor dem Direktor die Zähne und sagt, es sei eine großartige Erfahrung gewesen und dieses Mädchen, das so viel zu sagen hat, habe einige interessante Argumente vorgetragen, sie werde es weit bringen, zweifelsohne. Solange sie mir nur vom Leib bleibt, denkt er.
    Gina fühlt sich am Oberstufencollege sehr wohl. Zu ihrer großen Befriedigung ist es ganz anders als die bisherige Schule, man fühlt sich erwachsen, es gibt mehr Gleichgesinnte hier, und man wird stärker gefordert.
    Aber sie hatte kämpfen müssen, um hierherzukommen.
    *
    »Du bist nie mein Lieblingskind gewesen«, sagt sie. Sagt Mum. Das wirft Gina, ganz untypisch für sie, völlig aus der Bahn. Gina ist die Kompetente, Selbstständige, Unabhängige, die es mit allem aufnimmt, was auf sie zukommt, und damit fertigwird.
    Sie starrt ihre Mutter an, die sich wieder einmal richtig in Fahrt geredet hat. »… Nun ja, wenn du unbedingt gehen willst, dann muss es wohl so sein, aber ich finde es reichlich merkwürdig, ich meine, du hast hier ein wunderbares Zuhause, hier wird alles für dich gemacht, du bekommst leckeres Essen auf den Tisch gestellt – ist dir klar, dass du mit deinen Sachen in einen Waschsalon gehen musst, und weiß der Himmel, wie du dich ernähren wirst – ich begreife einfach nicht, wozu das gut sein soll, weil der Unterricht anders ist, sagst du, aber du bist in der Schule doch immer prima zurechtgekommen …«
    Hatte sie es wirklich gesagt? Sind ihr diese längst davongespülten Worte wirklich über die Lippen gekommen? Du warst nie …
    »… du warst schon immer so, setzt dir was in den Kopf und kannst dann keine Ruhe geben, hast an die Premierministerin geschrieben, also wirklich, ich erinnere mich gut, letztes Jahr musste unbedingt eine Schreibmaschine her, das Taschengeld von Monaten ist dafür draufgegangen, Bargeld gibt’s ja sonst nur zum Geburtstag und zu Weihnachten, eine richtige fixe Idee war das, und jetzt willst du auf und davon zu diesem College, vierzig Meilen weg von uns, in einem möblierten Zimmer hausen …«
    Nie mein Lieblingskind. Na, das hätte man sich auch nie

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