Familienalbum
eingebildet, und fiel es überhaupt ins Gewicht?
Irgendwo, im tiefsten, empfindlichen Innersten, von dessen Existenz man nichts geahnt hatte, fällt es doch ins Gewicht.
*
Den Mitgliedern einer Großfamilie wird ein Etikett verpasst. Sandra war die Hübsche, Roger der Gescheite, Clare die Sportliche, Paul der Älteste – Erstgeburt gilt viel –, Katie die Hilfsbereite. Ich war die Schwierige, denkt Gina. »Gina, sei doch nicht so schwierig .«
»Schwierig« hieß, dass Gina Einwände erhob, Anweisungen oder Entscheidungen in Frage stellte. Sich für ihre Begriffe vernünftig verhielt.
Dad war Schwierigkeiten nicht so abgeneigt – er begrüßte Auseinandersetzungen. Eine Debatte über neutrale Themen war ihm willkommen. Mum fand das bestenfalls albern, schlimmstenfalls frech.
Als Gina zwölf war, merkte sie, dass sie auf eine schlechte Schule gingen. Mit sechzehn hatte sie sich über Oberstufencolleges informiert, eines davon war in einer nicht allzu weit entfernten Stadt. Sie bewarb sich und wurde angenommen, besorgte sich die Lokalzeitung und fand ein möbliertes Zimmer im Haus einer älteren Witwe. Dann trug sie ihren Plan ihrer Mutter vor. Dem College hatte sie bereits zugesagt, dort wurde ihr Unternehmungsgeist entschieden begrüßt.
Und so fing alles an. Eine Teilflucht von Allersmead mit sechzehn, die endgültige Flucht dann mit achtzehn an die Universität. Danach völlige Loslösung.
*
»Du hast eine extrem dürftige Vergangenheit«, sagt Philip. »Oder sollte man sagen, du unterschlägst sie? Ist dir das überhaupt klar?«
»Ich hab zu viel von der Vergangenheit anderer Leute mitgekriegt«, erwidert sie.
»Klar, das haben wir alle. Aber du verfällst ins andere Extrem. Dir muss man alles aus der Nase ziehen.«
Gina lächelt.
»Erst als wir uns schon zwei Monate kannten, bist du damit rausgerückt, dass du eine Familie hast. Ich hatte schon vermutet, du seist als Waise aufgewachsen, unter Obhut des Jugendamts.«
Sie lacht. »Schön wär’s …«
»Und die Zeit danach ist für mich auch ein Buch mit sieben Siegeln«, fährt er fort. »Du hast Radio Swindon erwähnt, die ersten Schritte. Danach einige beachtliche Aufträge.«
»Ist alles im Lebenslauf aufgelistet«, sagt Gina.
»Ich weiß. Ich habe ihn gelesen. Mich interessiert aber eher, was zwischen den Zeilen steht.«
»Du weißt von David. Du weißt von den diversen Zusammenstößen mit meinen Redakteuren.«
»Sicher. Hat sich ja alles sozusagen vor den Augen der Öffentlichkeit abgespielt. Worauf es mir ankommt, sind die prägenden Momente.«
»Ach so, die«, sagt Gina.
Sie sitzen im französischen Bistro, das den Türken abgelöst hat. Gina fliegt nächste Woche nach Südafrika. Die nahe Trennung liegt bedrückend in der Luft.
»Erkennt man die prägenden Momente überhaupt?«, fährt Gina fort. »Nicht, während sie sich ereignen, so viel ist sicher.«
»Aber sie tauchen wieder auf.«
»Ein ganzer Haufen Blödsinn auch. Man erinnert sich an so viel belangloses Zeug.«
»Das kannst du gar nicht beurteilen. Das Zeug offenbart vielleicht viel über dich.«
Gina überlegt. Dann sagt sie: »Wir sind zur Schule gegangen, auf einem Zaunpfosten kriecht eine Raupe mit einem grünen Streifen auf dem Rücken herum, und Roger steckt sie in sein Federmäppchen. Was soll das nun offenbaren?«
Philip zuckt mit den Achseln. »Damit müsste sich ein Profi befassen.«
Erneutes Nachdenken. »Ich bin in Bosnien, glaube ich, und unser Kameramann sitzt am Straßenrand und isst ein Stück Brot mit Käse. Er legt es kurz hin, da schleicht ein streunender Hund heran und schlingt es hinunter.«
»Du schummelst«, sagt Philip. »Du servierst mir absichtlich den Schund.«
*
Möglich. Wahrscheinlich. Gina weiß, dass sie mit Selbstenthüllungen vielleicht etwas geizig ist. Warum? Auch das ist vermutlich ein Fall für die Profis. Ihr genügt die Erkenntnis, dass sie von den Momenten, in denen die Vergangenheit hochsteigt, lieber nicht allzu viel preisgibt, nicht einmal Philip gegenüber, den sie liebt. Das eigene Innenleben ist für einen selbst schon trüb genug, da brauchen nicht auch noch andere darin herumzufischen.
Es gibt Trübungen unterschiedlicher Art. Die Momente, die man am liebsten löschen würde, als man etwas Dummes, Unfreundliches, Bedauerliches getan hat. Dieser Kameramann: Die Brotstory hatte ein Nachspiel, Gina hat in dieser Nacht mit dem Mann geschlafen, ein Typ, den sie kaum kannte, vielleicht nie wiedersehen würde, an dem
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