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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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das Herz ausschütten? Nicht mit ihr. Undenkbar.
    Nein.
    Nein, wirklich nicht. Ich weiß, das klingt komisch. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen. Kein einziges Mal. Oder mit den anderen. Wir haben es alle verdrängt und auch später dabei belassen.
    Ja, vermutlich gab es einen Moment, als ich begriffen habe … aber das liegt jetzt alles im Nebel, ich kann mich nicht genau erinnern … ich hab’s einfach irgendwie kapiert, hab die Dinge anders gesehen, aber das hat im Grunde nichts verändert, alles ging weiter wie gehabt, die Menschen blieben dieselben, da gab es nur diesen neuen Gesichtspunkt, und ich habe nicht allzu viel darüber nachgedacht, habe mich lieber nicht damit beschäftigt, ich hatte sowieso nur das Tanzen im Kopf, die Frage, wie ich Tänzerin werden könnte, wie ich auf die Ballettschule kommen könnte, ich habe mich sozusagen schon damals von Allersmead entfernt, es verlor immer mehr an Bedeutung …
    *
    Clare sieht, dass Alex schläft, eine Hand unter der Wange, wie ein Kind.
    Der Schatz. Er ist ja so ein lieber Kerl.
    *
    Hier und da verzieht sich der Nebel, die Sicht wird klarer.
    Das Haar natürlich. Es ist inzwischen ziemlich lang, und sie versucht, es zu einer Rolle hochzustecken. Sie sagt zu Sandra: »Meine Haare sind genau wie die von Ingrid – ist das nicht lustig?«
    Was antwortet Sandra? Aus weiter Ferne und aus den Tiefen der Vergangenheit sagt Sandra, dass man oft so aussieht wie seine Mutter.
    Seine Mutter ?
    Eine gewisse Klärung. Allersmead gerät leicht ins Wanken, seine Einzelteile setzen sich neu zusammen. Clare kann sich nicht erinnern, was sie darauf geantwortet hat – falls sie überhaupt geantwortet hat. Vielleicht hat Sandra nur etwas bestätigt, was ihr selbst schon durch den Kopf gegangen ist, ein Gedanke, der vielleicht schon immer da war, nur nicht fassbar.
    Noch ein zweites Mal reißt der Nebel auf. Diesmal ist Gina in die Sache verwickelt, die andere große Schwester, die so klug und selbstsicher ist. Sie waren in der Kirche – gegen alle Gewohnheit. Allersmead ist atheistisch, aber für den Schulgottesdienst zu Weihnachten wird eine Ausnahme gemacht. In Clares Kopf schwirrt das Vaterunser herum. »Vater unser, der du bist im Himmel.« Unser Vater. Sie fragt Gina: »Ist unser Vater auch mein Vater?«
    Gina sieht sie an. Ihr Blick weiß alles, begreift alles. »Ja. Ist er. Er ist der Vater von uns allen. Vergiss es, ja?«
    Also vergisst sie es. Halb.
    *
    Sie vergisst, gleichzeitig weiß sie Bescheid. Dieses Wissen wird verdrängt, ganz tief, wird verdaut, wird vielleicht eher registriert als akzeptiert und selten zur näheren Betrachtung hervorgeholt.
    Vermutlich wären manche Leute schon längst kreischend zum Psychotherapeuten gerannt, sagt sie zu dem schlafenden Alex. Aber mir war nie danach. Als ich anfing, das Ganze zu begreifen, habe ich es von mir weggeschoben, es war zu verwirrend, ich war dem nicht gewachsen, vielleicht ist das Tanzen für mich auch deshalb zu einer solchen Obsession geworden. Mein Wunsch, Tänzerin zu werden, hat alles andere beiseitegedrängt. Und seit ich erwachsen bin, kommt mir alles nur noch ziemlich bizarr vor – was haben sie sich dabei gedacht? Wie war es für sie? Man hat keine Ahnung, überhaupt keine. Sie sind in dieser Hinsicht wie eine andere Spezies. Und trotzdem immer noch dieselben. Mum, Dad und Ingrid.
    Ingrid weiß, dass ich es weiß. Frag mich nicht, woher ich das weiß – ich weiß es einfach. Sie weiß es und hat nicht vor, darüber zu reden, so viel habe ich mitgekriegt. Ingrid kommt manchmal mit Wahnsinnshämmern daher, aber diesen Punkt – die Hauptsache – berührt sie nie. Anderes ja, ab und zu. Plötzliche Enthüllungen. Einmal habe ich mich über Dad beklagt – ich war mit ihr allein in der Küche von Allersmead, als ich aus der Ballettschule zurückkam, und Dad machte Theater wegen des Gelds, das ich für mein WG -Zimmer brauchte. Wir haben uns immer beklagt, wie knausrig Dad war, aber jetzt sehe ich ihn als Mann, der mit ziemlich vielen Kindern geschlagen war.
    *
    »Er ist so gemein «, jammert Clare.
    Ingrid geht nicht darauf ein. Ihr Gesicht lässt wie immer wenig erkennen, verbirgt aber vielleicht doch die Andeutung eines Lächelns.
    »Du hast damals sein Manuskript zerschnitten«, sagt Ingrid.
    Clare verschlägt es vor Staunen den Atem. Die Zerstörung von Dads Manuskript ist Familienlegende. »Hab ich das? Ich kann mich nicht erinnern. Woher weißt du das?«
    »Ich habe dich gesehen. Ich habe dich

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