Familienalbum
mit der Schere aus dem Arbeitszimmer kommen sehen. Du durftest noch keine Schere benutzen. Du warst sechs.«
Clare lacht. »Wahnsinn! Hab ich wirklich?« Ihr schießt ein Gedanke durch den Kopf. »Hat er es rausgekriegt? Weiß er es?«
Ingrid schüttelt den Kopf. »Nur ich weiß es«, sagt sie voller Genugtuung. »Und jetzt du.«
*
Wenn ich heute als Erwachsene auf sie zurückblicke, ist für mich nicht erkennbar, wer gelitten hat, wer ausgenutzt wurde. Alle? Keiner?
Ingrid
Ingrid denkt nicht mehr in ihrer Muttersprache. Zwar ist ihr noch diese Quelle zu eigen, diese Sprache, die sie jederzeit, wenn sie es möchte, anzapfen könnte, die manchmal in einem Traum, einer Nebenbemerkung spontan hochsprudelt. Aber Ingrid hält sie unter Verschluss und beachtet sie nicht, verweist sie doch auf die Zeit vor Allersmead, die nun sehr weit zurückliegt. Auf die junge Ingrid, auf Ingrid, das Mädchen.
Die heutige Ingrid hat sich von jener jugendlichen Ingrid weit entfernt; die kommt ihr tatsächlich vor wie eine andere Person, die eine andere Sprache spricht. Sie wurde im Lauf der Zeit von einer weiteren Ingrid abgelöst, die noch zweisprachig ist, aber in der Kultur von Allersmead aufgeht und dort heimisch wird. Mit diesem Alter Ego steht Ingrid auch heute noch in Verbindung; ab und zu taucht es auf und berichtet.
*
Als ich Allersmead zum ersten Mal sah, habe ich vielleicht gestaunt. Ich wusste nicht, dass es solche Häuser gibt. Ich hatte damals überhaupt kein Zuhause, meine Mutter war schon über ein Jahr tot, ich habe in einem Wohnheim gewohnt und tagsüber als Bedienung gearbeitet.
Und davor bin ich mit meiner Mutter von einer Wohnung in die andere gezogen, in möblierte Zimmer, Einzimmerapartments, mal hier, mal da, wo immer sie es sich in den Kopf setzte, und manchmal kam der Mann, der mein Vater war, kurz vorbei, aber nicht oft, und dann blieb er ganz fort. Meine Mutter hatte Freunde, verschiedene, viele; sie waren da und gingen wieder. Ich erinnere mich an Gesichter, eins mit Bart, ein anderes mit Tattoos. Ich erinnere mich, wie ich im Bett lag und hörte, wie nebenan getrunken und herumgeschrien wurde. Meine Mutter war oft betrunken. Ich glaube, sie war auch betrunken, als sie in jener Nacht auf die Straße lief und von einem Auto überfahren wurde.
Ich bin wohl nach England gekommen, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte; bei dieser Agentur gab es Stellenangebote, da könne man sein Englisch verbessern. Ich hatte Englisch in der Schule gehabt, konnte es aber nicht besonders gut.
Die Agentur hat mich nach Allersmead geschickt, zu Alison; auch sie war jung, aber ganz Mutter, als wäre sie schon immer dazu bestimmt gewesen. Damals hatte sie nur Paul, aber sie sagte, natürlich kommt bald das nächste, und dann noch mehr. Sie lachte. Alison lachte immer viel. Das war ganz anders als alles, was ich bisher kennengelernt hatte, meine Mutter, die Männer, diese ungemütlichen Apartments und möblierten Zimmer, das ständige Umziehen in die nächste, genauso scheußliche Wohnung. Langsam vergaß ich das alles und kann mich jetzt kaum noch daran erinnern; es ist, wie wenn man alte, vergilbte Fotos ansieht. Ich würde nicht mehr dorthin zurückkehren, das wusste ich. Ich war jetzt in Allersmead, und Alison sagte, Ingrid, du bist so ein Schatz, ohne dich käme ich nie zurecht.
Die Kinder waren Alisons Leben – ihr Mann war für sie, glaube ich, notwendig, aber nicht so wichtig. In den ersten Jahren, als Paul, Gina und Sandra noch klein waren, fand ich es merkwürdig, dass sie sich für Charles nicht besonders interessierte, dass sie nur wenig miteinander redeten. Ich dachte, vielleicht sind die Engländer eben so, wenn sie mal verheiratet sind. Ich habe erkannt, dass Charles sehr klug sein muss, mit den ganzen Büchern und so, und dass Alison – anders ist.
Sechs Kinder sind viel, aber nicht für Alison. Was für Alison zählt, ist die Familie, und je mehr Familie, desto besser. Also kamen die Babys, eins nach dem anderen; Allersmead ist ein großes Haus, und so gab es Platz genug, und Charles brauchte nur in sein Arbeitszimmer zu gehen und die Tür hinter sich zuzumachen, man durfte ihn nicht stören. Ich weiß nichts über seine Bücher. Ich habe sie mir angesehen, aber solche Bücher lese ich nicht. Er schrieb also seine Bücher, Alison bekam Babys, und bald gab es eine richtige Familie. Und Alison hat immer gesagt, du gehörst zur Familie, Ingrid, was würden wir ohne dich machen? Dass ich zur
Weitere Kostenlose Bücher