Familienalbum
warum. Nervenkrise. Blödheit. Egal, jetzt kommt’s:
Ich fände es sehr schön, wenn wir heiraten würden. Eine baldige Antwort wüsste ich zu schätzen.«
Clare
Meine Mutter war nicht meine richtige Mutter, sagt Clare, und die Person, die meine richtige Mutter war, war nicht meine Mutter, wenn du verstehst, was ich meine. Wohl kaum – wie könntest du auch? Mein Vater war mein Vater, das wenigstens war klar. Und meine Geschwister waren anscheinend wirklich meine Geschwister, zumindest halb.
Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle. Normalerweise rede ich nicht darüber. Pierre weiß es. Er ist ein paarmal in Allersmead gewesen. Findet das Ganze reichlich skurril, zuckt aber nur die Achseln; er ist eben Franzose.
Ich bin selbst inzwischen eine halbe Französin, nach zehn Jahren in Paris. Außerdem hat etwas Spanien, Holland und China auf mich abgefärbt – wir sind schließlich multikulti, unsere Truppe. Und natürlich habe ich durch meine Geburt auch ein bisschen Skandinavisches in mir. Welches bisschen?, frage ich mich. Ganz sicher das Haar. Das war immer schon verräterisch.
Meine Nicht-Mutter hat ziemlich krauses Haar, das früher braun war und jetzt graubraun ist. Ich erinnere mich, wie ich als kleines Kind Mums Haarnadeln geklaut habe, um damit zu spielen. Mein Vater – du liebe Güte, an seine Haare kann ich mich gar nicht erinnern. Undefinierbares Männerhaar, keine bestimmte Farbe, oben licht.
Ich habe Ingrids Haar. Unverkennbar. Es gefällt mir, ich bin froh, dass ich es geerbt habe, aber es kann beim Frisieren ganz schön nerven, weil es so fein und glatt ist.
Wir waren zu sechst, sechs Kinder in diesem großen alten Kasten. Allersmead. Übrigens eins der ersten Worte, die ich gelernt habe, wurde mir erzählt, Roger und Katie haben es mir beigebracht. »Wo wohnst du, Clare? In …« »Allersmead.«
Paul, Gina, Sandra, Katie, Roger und ich als Schlusslicht – das ist die Reihenfolge. Soll ich wirklich weitererzählen? Na schön – du kannst ja jederzeit einschlafen.
Ingrid? Ja, du hast’s erfasst. Ingrid war – ist – meine Mutter. Das Au-pair-Mädchen. Du siehst also, ich komme aus einer ungewöhnlichen Familie – vorsichtig ausgedrückt.
*
Clare liegt im Bett, neben ihr ein Mann, der nicht der ihre ist. Das ist für sie nicht etwa typisch, sondern kommt eher selten vor, wie jetzt zum Beispiel. Genau genommen liegt sie nicht mit ihm im Bett, sondern teilt nur das Zimmer mit ihm. Alex hat ein separates Bett; sie übernachten in einem Zweibettzimmer in einem etwas spartanischen Hotel.
Alex ist in der Truppe einfach Clares engster Freund. Alex ist schwul. Das Hotel – oder der Manager der Truppe – hat Mist gebaut und nicht genug Zimmer für alle reserviert, deshalb müssen einige Tänzer Zimmer teilen. Clare und Alex tun das gern. Sie sind beide noch etwas überdreht vom Auftritt und können nicht schlafen, also unterhalten sie sich von Bett zu Bett. Alex erzählt Clare, dass sich seine Eltern haben scheiden lassen, als er siebzehn war, was ihn furchtbar mitgenommen hat. Jetzt hat seine Mutter einen Neuen, womit sich Alex, inzwischen fünfundzwanzig, immer noch nicht abgefunden hat, aber das wird er wohl müssen. Unter den Tänzern wird sonst nicht viel über Familiäres geredet, vielleicht, weil die Truppe selbst zu einer Art Familie wird, einer neuen Familie. Clare ist ziemlich die Älteste hier und schon seit zehn Jahren dabei, die Veteranin sozusagen, und wenn jemand sie aufziehen will, nennt er sie die Mutter der Compagnie.
Alex fragt: »Sind deine Eltern auch geschieden? Du erzählst nie von ihnen.«
»Nein?« Clare weicht zuerst aus. »Nein, du hast ganz recht. Meine Familie ist nämlich, verglichen mit anderen, ziemlich komisch. Meine Mutter war nicht meine richtige Mutter …«
*
Was ich für Ingrid empfinde?, fragt Clare. Na, sie ist eben Ingrid wie immer, sie ist immer da gewesen, Allersmead wäre ohne sie unvorstellbar. Wenn ich an sie denke, dann denke ich nie »Mutter«, wenn du das meinst, ich denke immer nur »Ingrid«. Ich mag sie. Ich mag sie alle, aber es kommt mir vor, als wären sie jetzt sehr weit weg. Als wäre alles sehr lange her.
Ja, Ingrid war immer in Allersmead – außer anscheinend das eine Mal, als sie ein paar Monate wegging, aber sie ist ja zurückgekommen. Natürlich fragt man sich, wie es für sie gewesen ist. Sie würde es einem nie sagen. Ingrid ist ziemlich – zugeknöpft. Sie hat für Gefühle nichts übrig. Einander mal richtig
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