Familienalbum
aufgehängt hat? Sie hatte einen riesigen blauen Fleck am Bein. Und wie ich vergessen habe, den Truthahn aus dem Gefrierschrank zu nehmen, und wir ihn in der Badewanne auftauen mussten? Ich erinnere mich an alle Weihnachtsfeste, auch an die damals, als ihr alle noch klein wart und manche von euch noch gar nicht hier, als es nur Paul gab, nur Dad und mich.« Sie wendet sich an Charles. »Kommen einem diese Zeiten inzwischen nicht seltsam vor?«
»In der Tat«, bestätigt Charles. »Zeiten der Unschuld. Prälapsarisch. Der Garten Eden vermutlich.«
Sandra blickt von dem Päckchen hoch, das sie gerade aufmacht. »Und wer ist die Schlange, Dad?«
»Ich vermutlich«, sagt Paul. »Wenn man den Lauf der Dinge so betrachtet.«
Clare lacht. »Wir alle. Eine Schlange nach der anderen. Vielleicht wollte er nie Kinder haben.« Sie ist mit ihren schmalen Füßen in die Schaffellpantoffeln geschlüpft und betrachtet sie mit einem winzigen Stirnrunzeln; vielleicht sind sie doch nicht ganz das Richtige.
»Ich glaube, in der Bibel kommt nur eine Schlange vor«, sagt Ingrid. »Und Adam und Eva haben auch nur zwei Söhne, keine Töchter, glaube ich.«
»Stimmt haarscharf, Ingrid«, sagt Paul. »Und der eine macht den anderen kalt – ist doch so, oder? Also pass auf, Roger.«
Alison stellt ihren Kaffeebecher mit einem Knall auf den Tisch. »Jetzt hört endlich mit diesem Blödsinn auf, alle. Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet, aber es ist nur Quatsch. Und natürlich wollte Dad Kinder haben, Clare, das war eine dumme Bemerkung. Alle wollen Kinder, nun ja, ein paar komische Leute wollen wohl keine, aber das kann ich mir gar nicht vorstellen, ich wollte immer welche, seit ich mich erinnern kann, und dem Himmel sei Dank … wir hatten so viel Glück und Dad empfindet genauso …«
Alisons Stimme schraubt sich immer höher. Zusammenbruch im Anzug, denkt Gina. Sie schaltet sich ein: »Auf jeden Fall, Mum. Schau mal, da ist noch ein Geschenk, das du noch nicht aufgemacht hast.« Sie wirft Alison ein Päckchen zu.
Alison starrt es an und legt es weg. »Ich meine, es ist doch ganz natürlich und normal, dass man Kinder will, ich wollte immer welche, ein richtiges Familienleben ist doch Gold wert, ihr seid wahrscheinlich immer noch zu jung, um das zu begreifen, ich meine, könnt ihr euch vorstellen, ihr wärt nicht alle miteinander in Allersmead aufgewachsen, und als Dad und ich geheiratet haben, sind wir natürlich davon ausgegangen. …«
Gina wirft einen verstohlenen Blick zu Charles hinüber. Er war sichtlich nicht gerührt. Unrührbar?
»… und egal, was passiert ist, ich meine, völlig egal – was mich betrifft, kam die Familie immer an erster Stelle, was wirklich zählte, war die Familie, und Dad war derselben Meinung, nicht wahr, es war das Wichtigste, dass ihr in dieser wunderbaren großen Familie aufwachsen konntet und ein wunderbares Zuhause hattet, das kam immer an erster Stelle, egal, was passiert ist, und die eigenen Interessen waren unwichtig, natürlich nicht ganz, aber ich habe nie … was zählte, war immer die Familie, und Eltern empfinden nun mal so, eines Tages, wenn ihr eure eigenen Kinder habt, werdet ihr das begreifen, Dad weiß, wovon ich rede, und natürlich hat er immer genauso empfunden, nicht wahr …?«
Sie ist rot im Gesicht, hat sich selbst in Grund und Boden geredet. Sie starrt Charles an.
Er erwidert ihren Blick nicht. Er legt den Brieföffner mit dem Elfenbeingriff auf den Tisch. »Jeder Beitrag von mir ist entbehrlich. Du kennst meine Gefühle offenbar ganz genau.«
Das sagt er leise, sogar höflich. Dann steht er auf und verlässt den Raum. Niemand spricht. Ein paar Sekunden später hören sie die Haustür zuschlagen.
*
Unten im Keller gab es eine andere Mum, denkt Gina. Beim Kellerspiel. Mich. Ich habe sie neu erfunden. Ich habe eine Person aus ihr gemacht, die nie kochte; Würstchen und Kartoffelbrei kamen einfach aus der Luft geflogen. Diese Person hat Geschichten erzählt, hat alte Bettgestelle in Boote verwandelt und einen von Schlacke knirschenden Boden in die Antarktis. Ich habe eine Art archetypische Urmutter erstehen lassen, die selbst nichts tat, aber um die sich alles drehte. Und wenn ich darüber nachdenke, dann hatte auch Paul seine eigene Vorstellung davon, wie ein Vater sein sollte. Schau an.
*
In Johannesburg checkt Gina ihre E-Mails. Eine davon ist von Philip.
Er schreibt: »Irgendwie war ich in den letzten Tagen nicht in der Lage, die Frage zu stellen. Keine Ahnung,
Weitere Kostenlose Bücher