Familienaufstellungen
den seiner Eltern aus Perspektiven kennen, die ihm als Kind in seinen erinnerten Bildern bis heute fremd waren. Mit einer Vielzahl von Familienskulpturen werden die wichtigsten Lebensstationen in der Entwicklung der Eltern wie der Kinder dargestellt. Eine Familienrekonstruktion beginnt meist mit dem Kennenlernen der Großeltern, um herauszufinden, wie der Vater oder die Mutter bei ihrer Zeugung bzw. Geburt im Leben begrüßt wurden. Dieses Bild ist bedeutsam, um zu verstehen, welche Lebensgrundeinstellung der Vater oder die Mutter in sich trägt. Weitere Stationen auf dem Weg der Familie sind die Geburten der Geschwister des Vaters bzw. der Mutter, da mit jedem Kind das Familiengefüge sich neu ordnet. So wird Schritt für Schritt sichtbar, wie die Entwicklung zweier unterschiedlicher Familien die Familiengründung der Eltern beeinflusst hat.
Durch jede Skulptur erhält der Aufstellende wichtige neue Informationen über die einzelnen Familienmitglieder und kreiert damit sein Bild von seiner Familie neu. Viele Erwachsene können sich z.B. nicht vorstellen, wie die eigenen Eltern jung und verliebt miteinander geflirtet haben. In der Kennenlern-Skulptur, die der Aufstellende nach seinem gespeicherten Bild modelliert, bringen die Rollenspieler oft Gefühle und Themen zur Sprache, die diesem bisher unbekannt waren.
Die neuen Familienszenen, die die einseitige, manchmal auch verzerrte Wahrnehmung des (ehemaligen) Kindes korrigieren oder ergänzen, bringen Bewegung in festgefahrene Familienerzählungen. Gerade traumatische Erlebnisse werden in Familien oft wie bei einer hängen gebliebenen Schallplatte immer wieder gleich erzählt. Für Nachgeborene sind diese redundanten Trauma-Erzählungen oft schwer zu ertragen. Beispielsweise wenn der Rosenkrieg und die Trennung der Eltern immer wieder gleich erzählt werden – meist ohne die dazugehörigen Gefühle, sondern nur als dramatische oder aber auch selbstverständliche Story. Wenn über die Familienrekonstruktion den Nachgeborenen ein Zugang zu prä- und posttraumatischen Zeiten eröffnet wird, können die Nachfahren das damals Geschehene emotional verstehen, neu einordnen und, falls sie damit verstrickt sind, sich auch davon distanzieren.
In der Familienrekonstruktion zeigt sich ein wesentlicher Aspekt der Familientherapie: Der Blick richtet sich nicht nur auf die Beziehung zweier Generationen, also der Eltern und Kinder. Denn eine solche Sichtweise provoziert geradezu, dass sich folgende Bewertung ergibt: »Das arme Kind, das von den bösen Eltern vernachlässigt, verletzt wurde.« Stattdessen werden
alle Verletzungen wie auch alle Heilungskräfte im Fluss der Generationen
gesehen. Wenn wir das Werden unserer Eltern, unserer Familie verstehen, ist kein Urteilen oder gar Verurteilen mehr nötig – sowohl für das erwachsene Kind wie auch für diejenigen, die diesem zu helfen versuchen, nämlich Therapeuten oder Beraterinnen.
Virginia Satir entwickelte mit der Familienrekonstruktion eine kreative Methode, um sich dem Zeitpunkt einer Verletzung zu nähern, als zum eigenen Schutz eine starre Wirklichkeitserklärung aufgebaut wurde. Hat eine Frau beispielsweise die Botschaft »alle Männer sind untreu« verinnerlicht, wird sie womöglich über die Familienrekonstruktion mit einer frühen Erfahrung, einer Urszene in Kontakt kommen, bei der sich diese Einstellung entwickelte.
Wenn beispielsweise in der Familiengeschichte dieser Frau rekonstruierbar ist, dass der Großvater mütterlicherseits Frau und Kinder verließ und auswanderte, erhält diese Frau in der Familienrekonstruktion einen Eindruck davon, wie es ihrer Großmutter und ihrer Mutter damals wohl ergangen sein mag. Nun kann sie einordnen, wie die schmerzhafte Erfahrung durch wiederholte Erzählung sich generalisierte und zu einer verallgemeinerten Einstellung gerann. In dem Maße, in dem sie den abstrakten Glaubenssatz auf eine konkrete Erfahrung in der Familiengeschichte zurückführen kann, wird sie frei für neue eigene Lebenseinstellungen sowie Lebensentscheidungen.
In der Familienrekonstruktion lernen Sie, Ihre Familiengeschichte im geschichtlichen, sozialen und spirituellen Kontext zu betrachten. Die nackten (Jahres-)Zahlen werden mit Leben gefüllt: Jedes Jahrzehnt hat ein eigenes Lebensgefühl, besondere Werte, einen gewissen Stil und Zeitgeist. Diese neuen Bilder widerlegen die bisherige Erinnerung nicht, sondern fügen etwas hinzu. Denn alle Erinnerungen, die wir in uns tragen, sind letztlich eine
Weitere Kostenlose Bücher