Familienaufstellungen
konstruierte Wirklichkeit; sie sind immer nur ein Ausschnitt dessen, was sich damals ereignete.
So haben manche Menschen vornehmlich das Schwere in der Vergangenheit verinnerlicht, andere hingegen das Leichte, bei manchen dominieren die traurigen Erlebnisse, bei anderen die freudigen. Eine Familienrekonstruktion bietet die Chance, ausgeblendete Lebensereignisse zu entdecken, deren Gefühlsqualität für sie neu ist. Sie lernen ihre Eltern als Menschen kennen, die in einem ganz eigenen Familiengefüge groß wurden, dort eine ganz bestimmte Rolle gegenüberihren Eltern und Geschwistern einnahmen und selbst so manche Verletzung in sich tragen.
Die Familientherapeutin Hanna Grünewald-Selig, die noch direkt bei Virginia Satir gelernt hat und an deren Institut ich heute als Lehrtherapeutin arbeite, erzählte uns von einer sehr eindrucksvollen Familienrekonstruktion:
▶▶ Beispiel: Esther kam als Kind zweier Menschen zur Welt, die beide die einzigen Überlebenden jüdischer Familien waren. Viele Verwandte wurden im KZ ermordet. Als die junge Frau ihr Genogramm betrachtete und die vielen Toten sah, fühlte sie sich ohnmächtig und voller Schmerz angesichts des großen Leids. Ihr schnürte es die Kehle zu. Über ihrem Namen nichts als Totenkreuze, die wie Damoklesschwerte über ihr hingen.
Da drehte die Therapeutin das Genogramm auf den Kopf und sagte zu ihr: »Dein Leben ist wie das Leben einer Pflanze in der Wüste, die durch Steine hindurchwächst. Mitten in der Wüste erblüht eine wunderschöne Rose, die ihre Nahrung aus diesem Boden zieht. All diese Menschen, die hier auf Erden lebten, arbeiteten und sich liebten, miteinander sangen und lachten, sind deine Wurzeln.«
In der folgenden mehrtägigen Familienrekonstruktion lernte Esther all die viel zu früh Verstorbenen leibhaftig kennen. In der ersten Skulptur stellten die Rollenspielerinnen und Rollenspieler eine ausgelassene jüdische Hochzeit dar: Die Großeltern heirateten in den Zwanzigerjahren in Berlin. Da erinnerte sich Esther plötzlich an längst vergessene Erzählungen – über den Großvater, der so gut Witze erzählen konnte, über die Tante, die bereits früh laufen lernte und einmal unbemerkt entwischte, und vieles mehr.
In ihrer Vorstellung hatte sie ihre Verwandten immer nur leidend und tot gesehen. Nun spürte sie, wie viel sprühendes Leben in ihren Wurzeln steckte. Sie strahlte, als sie ihr Genogramm abschließend nochmals ansah.
Die Familienrekonstruktion veränderte viel in Esthers Leben. Sie hatte viele Jahre unter Fettsucht gelitten, die sich im Laufe der Monate nach der Familienrekonstruktion verlor. Ihr Lebensgefühl wandelte sich von Grund
auf. Bisher hatte sie sehr zurückgezogen gelebt, doch nun ging sie mit einer inneren Lebensbejahung auf andere Menschen zu und fand Freunde.
Die Familienchronologie
Als Vorgeschmack auf eine Familienrekonstruktion möchte ich Ihnen eine beliebte Selbsterfahrungsübung aus diesem Seminar vorstellen:
die Familienchronologie.
Sie macht Ihnen bewusst, welche vergangenen Zeiten in Ihrer Familie intensiv erinnert werden und welche wie »blinde Flecken« erscheinen.
Bei meiner eigenen Familienrekonstruktion merkte ich plötzlich, dass in unserer Familie die Jahre des Zweiten Weltkriegs, die viel Leid für die Herkunftsfamilien meiner beiden Eltern bedeuteten, bis heute intensiv in Erinnerung sind. Die Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahre fehlten aber praktisch vollständig in meinen inneren Bildern. Die schweren Zeiten hatten die leichteren überdeckt. Die Familienrekonstruktion regte mich an, mir von meinen Eltern mehr über diese energiegeladene, leichtere Phase erzählen zu lassen, von ihrem Studium, ihren ersten Berufsjahren und von unternehmungslustigen Freunden.
Die Familienchronologie gibt Ihnen einen Leitfaden an die Hand, um mit Ihren Eltern oder anderen Angehörigen über Ihre Familie zu reden und dabei mit kindlicher Neugier Ressourcen zu entdecken. Fallen Ihnen in der Retrospektive mehr schwere Ereignisse auf, machen Sie sich auf die Suche nach dem Leichten. Dominieren freudige Ereignisse, seien Sie froh darüber! Möglicherweise finden Sie in Ihrer Familie große Ressourcen, die helfen, traurige, schmerzhafte Ereignisse zu verkraften. Vielleicht entdecken Sie aber auch, dass es ein unausgesprochenes Verbot in Ihrer Familie gibt, über Verletzungen und Trauer zu sprechen. Als Erwachsene haben Sie die Möglichkeit, sich mit totgeschwiegenem Leid und verdrängter Trauer zu
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